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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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»verkehrte« Männer im Dorf nannte. Paragraph 175. Was ging das mich an? Ohne die Karte hätte ich das Buch nie gelesen, verlockt worden war ich allein durch das Verbot.
    Am nächsten Tag stand Godehard schon bei der Kiste und schwenkte mir ein dickes Buch entgegen. »Sieh mal, was ich gefunden habe«, rief er statt einer Begrüßung, »genau, was du dir gewünscht hast!«
    Es war der Echtermeyer. In der Erweiterung durch Benno von Wiese.

    »Hier? Hier in der Kiste hast du den gefunden?«, fragte ich ungläubig.
    »Naja«, druckste Godehard, »nicht ganz. Aber den wolltest du doch haben, hast du gestern, äh, vorgestern gesagt.«
    »Ja, aber, der ist doch so t …« Ich biss mir auf die Zunge. Knusperhäuschen!
    »Ist schon alles erledigt«, drängte er mich weg von der Tür zum Laden, nahm mir die Aktentasche ab und verstaute das Buch. »Mein Auto ist zur Inspektion. Komm, wir nehmen ein Taxi. Ich will dir was zeigen. Und eine Kleinigkeit essen können wir dort auch. Du hast doch noch nichts gegessen? Siehst du, ist schon da, Herr Buche hat es bestellt.«
    Taxi fahren! Das schloss sich lückenlos an Trüffel und Champagner an. Nie war ich, wäre ich oder jemand aus der Familie oder Verwandtschaft mit einem Taxi gefahren. War man krank, sprang Rudi ein, Hannis Mann, der einzige Verwandte in Dondorf mit Auto. Hatte ich überhaupt jemals auf Dondorfer Straßen ein Taxi gesehen?
    »So schweigsam, kleine Hilla?« Godehard rutschte ein bisschen näher. Lieber hätte ich vorn beim Fahrer gesessen, bessere Sicht. Doch Godehard hatte mir demonstrativ die Hintertür aufgehalten. Saß man im Taxi immer hinten? Bei Frau Dr. Oheim gab es Manieren in Auto, Eisenbahn, Ozeandampfern, Flugzeugen. Im Taxi nicht.
    »Nichts erlebt heute? Ich kann dich ja nicht nach der Schule fragen, wie ein kleines Kind. Was machst du denn so, wenn du nach Hause kommst?«
    »Lesen«, antwortete ich einsilbig. Weil ich zu lesen begonnen hatte, als ich noch an Wunder glaubte, vor den Buchseiten schon aus den Steinen gelesen hatte, blieb das Lesen immer etwas Wunderbares. Die Verwandlung von Zeichen in eine lebendige Welt war in sich selbst ein Wunder. Könnte er das verstehen? Dass Lesen für mich das war, was für die Großmutter und alle, die glauben konnten wie sie, das Beten war. Könnte ich ihm das klarmachen? Dass Lesen mich in einen Stand der
Gnade, des Einsseins mit meinem besseren Ich versetzte. Dass es mir weniger auf den Inhalt, den Stoff eines Buches ankam. Erst recht nicht auf die Spannung einer Handlung. Es waren die Wörter, die Sätze, der Rhythmus, die mich erregten, das lange, langsame Zusammensein mit einem Buch, die Form, die Gestalt der Wörter, ihr Rollen und Rauschen im Ohr, die mich in die sicher gefügte Wirklichkeit einer Geschichte davontrugen. Das sollte cand. rer nat. Godehard van Keuken begreifen?
    Wie sollte er verstehen, dass ich las, wann immer ich Zeit fand. Freie Zeit war Lesezeit. Wenn ich der Wirklichkeit gegeben hatte, was der Wirklichkeit war, machte ich mich aus dem Staube dieser Vergänglichkeit ins Buch, gab mich den Buchstaben hin: meiner einzigen, einsamen Leidenschaft. Jedenfalls bis jetzt. Konnte ich Godehard das erzählen? Ich konnte nicht.
    »Und dann hatten wir Besuch. Verwandtschaft. Tante, Cousinen, Nachbarn. Eine kleine Abendgesellschaft.« Julchen und Klärchen von nebenan hatten immer noch keinen Fernseher, und die Tante war mit ihren Töchtern zu Robert Lembkes Was bin ich? Das heitere Beruferaten gekommen, weil die Männer unbedingt Fußball wollten, Borussia Mönchengladbach spielte auf Schalke.
    »Ach, wie schön.« Godehards Stimme war warmes und weiches Verständnis. »Ja, die Familie. Was wären wir ohne die. Und ohne die Liebe!« Godehard drückte meine Hand. Ich drückte zurück.
    »Liebe ist wie Wasser, das über Steine fließt«, sagte ich.
    »Wie bitte?«
    Rebmann hatte die Angewohnheit, derlei Sätze einfach aus der Luft zu greifen, um sie dann zu zelebrieren wie ewige Wahrheiten alter Weiser. Oft verstand ich nicht nur ihren Sinn nicht, ich begriff auch nie, warum sie gerade in diesem Augenblick fielen; nur mit erheblicher Tüftelei ließ sich irgendein waghalsiger Zusammenhang zu dem gerade Diskutierten herstellen. Ob Zitat oder Erfindung war nie sicher. Doch meist fand ich Gefallen an den Sätzen. Daran änderte sich nichts, als ich Rebmann
durchschaute: Unter dem Banner eines großen Namens gewinnen blumige Plattheiten Tiefgang.
    »Der Anfang ist gemacht. Die Enden Lichtern

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