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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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gleichen«, hatte er vor ein paar Tagen zwischen den Aufsatzthemen »Sollten Jugendliche einen eigenen Hausschlüssel haben?« und »Interpretieren Sie das Gedicht von Hugo von Hofmannsthal Manche freilich « verlauten lassen, und ich hatte mich daraufhin gemeldet.
    »Kao Pe Ping«, sagte ich, »4. Jahrhundert vor Christus.«
    Rebmann hatte keine Miene verzogen: »Etwas genauer bitte: Mao Ze Peng. 348 bis 346 vor Christus.«
    Nach der Stunde schob ich Rebmann einen Zettel zu: »Genau am 30. April 347 vor Christus um halb zwölf Uhr abends.«
    Seither versuchte ich mich selbst an derlei Tiefsinnigkeiten, hatte sie auch schon an Bertram erprobt: »Die Wahrheit steht vor der Tür«, hatte ich ihm beim Mittagessen verkündet. »Wir müssen sie nur noch hereinlassen.« Worauf der kauend und schluckend »Alaaf!« geantwortet hatte und die Tante wie aufs Stichwort in die Küche gestürmt war.
    »Ja«, wiederholte ich. »Liebe ist wie Wasser, das über Steine fließt. Ist das nicht ein schöner Satz? Pao Me Ling. 3 vor Christus.«
    »Über Steine, ja.« Godehard war sichtlich erleichtert, sozusagen wieder auf festem Boden. »Wie schön, dass du die Steine so liebst wie ich. Nimm einen Stein in die Hand und du stehst in Verbindung mit Urzeit und Geschichte des Bergischen Landes. Trias und Jura bauten die Talränder aus. Die breite Talsohle … Rechts, rechts!«, unterbrach er seinen Vortrag. »Rechts geht es nach Moorbruck!«
    Der Wagen bremste, ging scharf in die Kurve, warf mich gegen Godehard; ich setzte mich gerade. Schon tauchte das Schloss vor uns auf. Statt Geld gab Godehard dem Fahrer eine Karte, Visitenkarte vermutlich, die der Mann nach einem Blick darauf widerspruchslos akzeptierte.
    Im Schlosscafé aßen wir Ragout fin, das Godehard mit echtem Geld bezahlte, genau wie die Eintrittskarten zur Ausstellung, von der Buche gestern gesprochen hatte.

    »Kleine Hilla«, Godehard zog mich mit sich. »Das wollte ich mit dir teilen. Es ist exzeptionell. Gestern war ich mit Burkhard hier. Meinem Bruder. Und der Tante. Die Tante, naja, die ist alt und anderes gewohnt. Aber Burkhard und ich konnten uns kaum losreißen. Endlich einmal jemand, der die verrotteten Verhältnisse erledigt. Rücksichtslos und radikal. Genauso stand es im Kölner Stadt-Anzeiger . Dieser Dr. Sartorius, übrigens ein Freund des Hauses, besonders meiner Mutter, weiß die Moderne beim Namen zu nennen. Ein ausgezeichneter Schreiber.«
    Auf der Realschule hatten wir mit Buntstift und Wasserfarben, Linolschnitt und Kartoffeldruck hantiert, das letzte Jahr damit verbracht, uns gegenseitig abzumalen. Im Aufbaugymnasium fielen Kunst, Musik, Sport und Religion flach. Meine Kunstkenntnisse beschränkten sich auf Fleißkärtchen und Heiligenbilder, Drucke aus der Kristall und dem Michaelskalender , den Kunstpostkarten von Sigismund. Modern: Das hieß Monet und Manet, Gauguin und van Gogh und endete bei Picasso und Buffet.
     
    Das Schloss, etwa doppelt so groß wie die Villa der Bürgermeisterfamilie, wo die Großmutter Dienstmädchen gewesen war, roch durchdringend nach Bohnerwachs, was die Tafeln »Vorsicht frisch gebohnert« noch zu verstärken schienen. Der Ausstellungsraum war dunkel getäfelt, die Decke weiß gewölbt mit goldenen Rippen. An den Wänden die Kunst. Leinwand, etwa kartoffelsackgroß, straff auf einen Rahmen geklopft, die Nägel bei einigen sichtbar. Einige weiß, andere schmuddelig grau. Jedes Stoffstück irgendwo, meist in der Mitte, aufgeschlitzt.
    Ich blickte zu Godehard hoch. Der stand, den Kopf leicht zur Seite geneigt, vor einem der Schlitzfetzen, tat einen Schritt nach rechts, nach links, wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen, trat zurück, ging näher, eine Person sprang hinzu: »Abstand halten, bitte!«

    Abstand wovon? Von einem aufgeschlitzten Sack? Den die Großmutter nicht einmal mehr hätte zu Putzlumpen zerschneiden wollen? Verstohlen sah ich mich um. Eine Frau mit grauem Pagenkopf machte sich in ein Büchlein mit Goldschnitt Notizen. Ein junges Paar drehte eine Runde, kicherte und ging.
    Godehard umklammerte meine Hand. »Diese Wucht! Diese Raserei. Diese Kompromisslosigkeit. Das ist Kunst: keine Kompromisse. Entgrenzung. Kühle Überlegung. Das ist: Zerstörung als Öffnung in den unendlichen Raum.«
    »Ist aber doch Durchschnitt!«, sagte ich trocken. »Mitten durch. Meistens jedenfalls. Und ins ›Unendliche‹? Bis gegen die Wand.«
    »Hilla!« Godehard schleuderte meine Hand von sich. »Das ist nicht dein Ernst! Ist

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