Aufbruch - Roman
trafen wir uns beim Buchhändler. Meist fuhr ich danach nach Hause; ich musste lernen. Das musste Godehard einsehen. Mitunter aßen wir Bei den drei Tannen
im nahgelegenen Stadtwald eine Kleinigkeit. Von der Schule erzählte ich, von Büchern, überlegte mir schon während des Tages, wie ich ihn zum Lachen und Staunen bringen könnte. Doch Godehard war kein guter Zuhörer. Er hörte sich gern reden und ich ihn. Auf unseren langen Spaziergängen lernte ich viel über Steine und Gesteinsformationen, die Erde unter meinen Füßen. Erfuhr einiges von seiner Familie, und dass er auf keinen Fall ins Geschäft des Vaters eintreten werde. Er liebe sein Fach, die Geologie, und wolle an der Uni bleiben, Forschung und Lehre. Fast übergangslos kam er vom Reden zum Küssen, es blieb angenehm und herzklopflos, und manchmal durfte er seine Hände nach meinen Brüsten ausstrecken, sie ein wenig drücken oder streicheln, so, wie den Rücken, zwischen den Schulterblättern war es mir am liebsten. Ob er mich nach Hause fahren dürfe, fragte er nicht mehr. Ich hatte immer neue Ausflüchte erfunden. Er hatte keine Eile.
Erwartete Godehard mich nicht bei der Kiste, lag immer ein Geschenk für mich unterm Ladentisch. Meist das Buch, von dem ich ihm am Vortag erzählt hatte, immer eingeschlagen in weißes Seidenpapier. War mir das erste Buch noch wie ein Wunder vorgekommen, wurden die Wunder nun alltäglich und waren keine mehr. Wie schnell man sich an Wunder gewöhnt. War das Kästchen quadratisch und fest, enthielt es einen Stein. Nie ohne die exakte Beschreibung von Fundort und Datum sowie Name und Eigenschaften des Minerals.
Mit Bertram besprach ich jeden Stein. Und nicht nur die. Abend für Abend hielt ich ihn über Godehard auf dem Laufenden. Als er den Deckel vom ersten Kästchen hob, sah ich, dass er schluckte, so, wie ich geschluckt hatte beim Anblick des glatten, dunkelgrünen Steins auf schwarzem Samt. Bertram nahm ihn in die Hand, so, wie ich ihn in die Hand genommen hatte, schloss die Hand zur Faust, grün schimmerte es zwischen den Fingern hindurch.
»Jetzt hast du wohl was Besseres als de Boochsteen und minge Laachsteen. Ich glaub, ich brauch jetzt ne Wutsteen.« Bertram ließ den Stein zurückfallen.
»Mensch, Bertram, das glaubst du doch selber nicht!« Ich nahm das polierte Stück in die Hand. »Bei unseren Steinen hat der nichts zu suchen. Turmalin, sagst du? Von mir aus auch Turmalin. So ähnlich stell ich mir nen Lügenstein vor. Lapis mendax.«
Sie waren schön, Godehards Steine, mal geglättet, mal wie aus der Erde gewachsen, schartig und rau, schrumplige Jahrmillionengesichter. Schön waren alle. Sie waren schön - und stumm. Mochten sie anderen viel zu erzählen haben, zu mir sprachen sie nicht. Ich ließ sie in ihren Kästchen. Gesellte sie nicht zu den anderen. Stapelte sie in einem, dann einem zweiten Schuhkarton unterm Tisch im Holzstall. Nach einem Brief, einem Zettel, irgendetwas Geschriebenem von Godehards Hand suchte ich in den Büchern und bei den Steinen vergebens.
Müde und zufrieden von weiten Wegen, langen Küssen saßen wir wieder einmal in seinem Auto, als Godehard wohlig seufzte: »Nun, ja, es ist ja auch kein Zufall gewesen, dass wir uns bei den Kisten getroffen haben.«
»Schicksal, Gottesfügung?«, erwiderte ich halb im Scherz, halb ernsthaft.
Godehard lachte. Eine ganze Zeit lang, gestand er, habe er mich beim Buchhändler beobachtet, mit welchem Ernst ich Tag für Tag unverdrossen die Bestände kontrolliert, mein Geld gezählt hätte. Und wie strahlend ich jedesmal herausgekommen sei, wenn ich ein Buch gekauft hätte. Eines Tages habe er sich dann ein Herz gefasst. Das Weitere wisse ich ja. Godehard lachte wie nach einem gelungenen Schabernack. »Und dann deine Augen«, fügte er hinzu und küsste sie beide.
Mir aber war nicht zum Lachen zumute. Sollte ich nicht geschmeichelt sein, dass ein cand. rer. nat., Erbe der Keuken-Fabriken, offenbar die Aufbauschülerin Hilla Palm aus der Altstraße 2, dat Kenk vun nem Prolete, auserkoren hatte? Warum sollte man nicht erst einmal zusehen, sich ansehen, mit wem man sich einließ?
»Und das Buch zum Bestimmen der Steine, das habe ich mitgebracht«, fügte Godehard hinzu. »Ich musste doch wissen, ob du dich für Steine erwärmen kannst.«
»Aber dass mein Buch, das Buch, das ich gerade in der Hand hielt, Verwitterte Steine hieß, das hast du ja wohl nicht auch noch eingefädelt«, erwiderte ich trotzig. »Und dass der Verfasser auch
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