Aufbruch - Roman
noch Eysselstein heißt und das Buch im Biederstein Verlag erschienen ist, ist ja wohl ein bisschen viel Zufall.« Ich musste schon wieder lachen. Das ging auf keinen Buchstein!
Trotzdem. Ich ließ zwei Tage beim Buchhändler aus. Dann ging ich wieder hin, besorgt, Godehard könnte in Dondorf auftauchen. Ich sah ihn nur kurz, fuhr gleich nach Hause. »Es gibt bald Zeugnisse«, sagte ich. »Klassenarbeiten. Du vergisst wohl manchmal: Ich geh noch zur Schule.«
»Heiraten darf man mit Erlaubnis der Eltern ab sechzehn«, erwiderte er.
»Heiraten?«, wiederholte ich entgeistert. »In einer Woche gibt es Zeugnisse. Ich muss nach Hause.«
Kurz vor Ostern war das erste Schuljahr im Wilhelm-von-Humboldt-Aufbaugymnasium vorbei. Knapp vier Monate hatte es für mich gedauert. An der Abiturfeier, gemeinsam mit dem Franz-Ambach-Gymnasium, nahmen Mittel- und Oberstufen teil. Die Besten jeder Klasse wurden nacheinander auf die Bühne gerufen. Wie lange war es her, dass ich im grünen Samtkleid von Gottfried Keller geschwärmt und mein Abgangszeugnis von der Realschule empfangen hatte. Ich trug das Kleid auch heute, als ich meinen Namen hörte, mit weichen Knien die Stufen hinaufstieg, wo der Direktor »Hilla Palm, in Anerkennung für besondere Leistung« einen Bildband von Claude Monet überreichte, den ich erst einmal fallen ließ, einfach durch die Hände rutschte
er mir, ehe ich ihn, wie die Großmutter ihr Gebetbuch, an die Brust hob.
Nur entgegennehmen musste ich das Buch. Und festhalten. Sonst nichts. Keine Rede halten und keinen Knicks machen. Keinen Blumentopf überreichen. Ich musste nicht dankbar sein. Nur froh. Wie anders es sich anfühlte, dieses Buch, anders als alle Bücher von Godehard. Auch dessen Bücher hatte ich nicht bezahlen müssen. Sie waren mir geschenkt worden. Diesen Monet hatte ich mir verdient. Er war mehr als ein Buch. Er war eine Auszeichnung. Beinah ein Orden. Unsichtbare Leistung sichtbar gemacht. Am liebsten hätte ich den Bildband geküsst wie der Pastor das Messbuch am Altar. Corpus christi. Corpus libri. Ich war selig.
Viele Schüler waren mit ihren Eltern gekommen. Die Zeugnisse wurden gefeiert. In kleinen Gruppen schlenderte man aus der Aula ins Freie.
Draußen stand Godehard und strahlte. Aufs Schulgelände hatte er sich noch nie vorgewagt. Bloß weg hier. Monika, mit ihrer Mutter noch ins Gespräch mit Rebmann vertieft, konnte jeden Augenblick herauskommen.
»Du, hier?«, fragte ich und suchte das Buch in meinem Matchbeutel zu verstauen. Niemand, schon gar nicht Monika, sollte mich mit Godehard sehen. Als könnte der sich unter ihren neugierigen Augen verflüchtigen wie ein verbotener Traum.
»Ich dachte, du freust dich. Ich dachte, deine Eltern sind auch hier. Da könnte ich sie doch einmal kennenlernen.«
»Komm jetzt.« Ich zog ihn hinter mir her.
»Na, hör mal!« Godehard blieb abrupt stehen. Dann, plötzlich, rannte er schneller als ich, zog nun mich hinter sich her, und die Welt war wieder in Ordnung. Schnaufend erreichten wir sein Auto.
»Zeig mal, was wolltest du denn da vor mir verstecken?« Godehard schnappte sich meinen Matchbeutel und zog das
Buch heraus. Pfiff durch die Zähne, das heißt, beinah tat er das, rief sich aber kurz vorher zur Ordnung und küsste mir übertrieben schwungvoll die Hand. »Meine Verehrung! Meine kleine Hilla! Eine Zierde ihres Geschlechts. Donnerwetter. Das muss gefeiert werden.«
Ich riss mich los. »Heute nicht.«
»Nein. Heute nicht! Ich muss nämlich ein paar Tage verreisen. Nach Idar-Oberstein. Beruflich. Eine ganz seltene Lieferung. Turmaline aus Südwestafrika. Ich wollte dir nur Adieu sagen. Und dir das hier geben. Damit du bei jedem Blick an mich denkst, mich nicht vergisst. Wenn ich zurück bin, hast du Ferien, und dann kommst du auch endlich zu mir nach Hause.« Godehard küsste mich flüchtig auf die Wange und stieg in sein Auto. Nicht einmal zum Bus fuhr er mich. Ich sah ihm nach. Das Päckchen in der einen, das Buch in der anderen Hand. Und war auf der einen Seite traurig und auf der anderen froh.
Im Holzstall räumte ich den Tisch leer. Für das Buch. Legte alle meine Steine rundherum. Den vom Großvater mit meinem Namen. Bertrams Lachstein. Die Namenssteine. Passte den Bruder am Gartentor ab: »Ich muss dir was zeigen.«
»Junge, Junge! Darf ich?« Zögernd streckte Bertram die Hand nach dem Buch aus.
»Na klar!«
Vorsichtig, beinah andächtig schlug der Bruder das Buch auf und versank in Monets Gärten und
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