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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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im Fernsehen, Adenauers Frankreichpolitik oder irgendeine Sorte Leberwurst ging. Freundlichkeit schien ihr überflüssiges Getue; Liebenswürdigkeit etwas für die, die es nicht nötig hatten zu kämpfen. Astrid kämpfte. Das sah man ihr an. Und das war der Grund, weshalb ich sie nicht gerne ansah, als widerspiegele sie Enge und Not der Altstraße 2, als potenziere ihre Dürftigkeit die meine.
     
    Astrid, obwohl ich mich von ihr fernhielt, suchte meine Nähe. Sie war keine gute Schülerin, und ich glaubte, sie als Einzige in der Klasse beneidete mich.
    Ob ich schon mal was von Max von der Grün gehört hätte? »Ein Bergmann, Arbeiter, schreibt Bücher. Männer in zweifacher Nacht .« Könne sie mir leihen. Ob ich Die Eingeschlossenen im Kölner Schauspielhaus gesehen hätte? Fidel Castro bei seinem Besuch in Moskau im Fernsehen, Martin Luther King und die großen Demonstrationen, die Eröffnung der Internationalen Gartenschau in Hamburg, hundertzehn Fußballplätze groß. Hatte ich davon gehört? Mit malmendem Gebiss schmetterte sie Frage auf Frage an mich, energisch forderte der Unterkiefer Antwort, doch ihre kleinen blassblauen Augen bettelten. Ich fühlte Macht. Macht zu gewähren oder zu versagen. Einfach so. Schließlich, als sie mir Max von der Grüns Irrlicht und Feuer geradezu aufgedrängt hatte, ging ich eines Nachmittags nach der Schule mit ihr nach Hause.

    Astrid wohnte ein paar Bushaltestellen vom Gymnasium entfernt. An Geschäftsfassaden vorbei fuhren wir, dann durch Straßen mit hohen Bäumen und Häusern mit breiten, buschigen Vorgärten; schließlich hieß es Endstation auf einem Platz, von dem aus ein paar Straßen in die Siedlung führten, eine Gründung aus den ersten Nachkriegsjahren. Keine Bungalows, keine niedrigen Reihenhäuser wie in Dondorf, vielmehr sechsstöckige Blöcke, dazwischen Rasen und Sandkästen, Wippen, Schaukeln, ein Klettergestell. Ein paar Bänke. Mütter mit Kindern.
    »Gefällt es dir hier?«, fragte Astrid, Trotz und Betteln in der Stimme.
    »Ja, doch, nett hier«, sagte ich beiläufig.
    Die Straßen unterschieden sich kaum, und die Namen, Märchennamen wie Aschenputtelweg, Dornröschen- und Schneewittchenstraße, sprachen der Wirklichkeit Hohn. Vor einem der Häuser blieben wir stehen, im Rapunzelgässchen, nicht schmaler und nicht breiter als die König-Drosselbart-Allee und vom gleichen trüben Anblick.
    Astrid schob mich durch die Tür, die Treppe hinauf, Kindergeschrei, Radiostimmen, bis sie eine zweite Tür aufsperrte. In der Nische des engen Flurs eine Singer-Nähmaschine.
    Astrid machte Licht.
    »Da ist das Bad.«
    Ein Geviert, kaum größer als ein geräumiger Schrank, fast wäre ich übers Klo gestolpert: Waschbecken, Duschkabine, Klosett. Die Fliesen sauber bis in die Fugen, wie neu.
    Aus der Küche hörte ich ein Husten.
    Astrids Mutter saß am Tisch, stopfte und rauchte, Qualm stieg in grauen Strähnen an die Decke. Die Frau inhalierte noch einmal tief und stieß ein lungengefiltertes, bläuliches Wölkchen aus, ehe sie die Zigarette in den Aschenbecher neben einem Korb mit Wollsocken legte und mir die Hand gab. Eine knochige, harte Hand, eine Hand, wie ich sie kannte, eine Hand, die gearbeitet hatte von Kindheit an, die gut passte zu der knochigen
Gestalt und dem hageren Gesicht mit den kurzen aschigen Haaren.
    »Aha. Das Arbeiterwunderkind«, musterte sie mich aus zusammengekniffenen Augen. »Setzt euch ins Wohnzimmer. Essen steht auf dem Herd.« Und, meine Verblüffung bemerkend, fügte sie hinzu: »Ihr seid ja wohl alt genug, euch die Suppe aufzuwärmen.«
    Nie hätte die Mutter mir erlaubt, mich Herd und Kochtopf auch nur zu nähern, geschweige denn, mir selbst etwas zu machen. Während ich zusah, wie Astrid mit Kochlöffel und Gewürzen hantierte, eine Dose Würstchen aufmachte und in den Topf gab, dachte ich, dass auch die Küche ein Machtbereich sein kann. War das der Grund, weshalb die Mutter der Großmutter so lange gezürnt hatte, dass die sie nit an de Pott ließ?
    Im Wohnzimmer schoben wir die Tischdecke zurück und legten eine Zeitung unter die Teller. Astrid aß mit der breiten Seite des Löffels und war so viel schneller fertig als ich, die ich die Suppe von der Löffelspitze in den Mund kippte.
    Nach dem zweiten Teller hechelten wir Latein-, Deutschund Mathelehrer durch; verlachten die immer länger wachsende Schmachtlocke des schönen Armin; die schlottrigen Hosen des frommen Alois, der wohl seine »Fleischlichkeit« verstecken wollte;

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