Aufbruch - Roman
beklagten, dass die Monatskarten für Bus und Bahn schon wieder teurer wurden.
Während Astrid die Teller nahm und nicht zuließ, dass ich ihr in die Küche folgte, sah ich mich im Wohnzimmer um. Alles wie neu. Neu und billig. »Sonderangebot« schien an jedem Gegenstand zu kleben; am Schrankwandstück mit gläsernen Schiebetüren, an der graugrünen Couchgarnitur, am Beistelltisch mit blaugrüner Resopalplatte. Am Esstisch mit sechs Stühlen. An van Goghs Sonnenblumen, Picassos Pierrot. Billige Drucke in billigen Rahmen. Billig, hässlich, neu: Ein anscheinend unvermeidlicher Dreiklang, dachte ich, und war für das Vertiko in der Küche der Altstraße 2, den Couchtisch mit den schnörkeligen Schnitzereien, die schwere Eichenanrichte, das Samtsofa und
die Sessel aus Großmutters Dienstmädchenzeiten beim Bürgermeister beinah dankbar.
Dann aber fiel mein Blick auf das, was hinter dem Glas der Schrankwand stand. Von mir aus hätte Astrid nun für den Rest des Nachmittags in der Küche bleiben können. Doch mit zwei großen Gläsern Apfelsaft war sie schon wieder zurück.
»Warte«, sagte sie, »hier ist der Schlüssel.« Astrid griff hinter die Uhr, ähnlich der unseren, nur aus Plastik, so, wie vor Jahren der Vater nach dem Stöckchen hinter der Uhr gegriffen hatte, sperrte die beiden Schranktüren auf und weidete sich an meinem verblüfften Staunen: Wo bei uns die Sammeltassen, Vasen, Wein- und Schnapsgläser standen, und die Kaffeekanne aus den Beständen der Frau Bürgermeister unter einem Plüschwärmer jahraus, jahrein auf ihre Befreiung zum Gebrauch wartete - da standen bei Kowalskis Bücher. Ganz unten Stöße von Reader’s-Digest -Heften und Der Gewerkschafter . Darüber aber Bücher mit stabilen Einbänden, kaum einmal ein Taschenbuch, eine richtige Bibliothek hielt sich hier zwischen Birkenfurnier auf Sperrholz und Papprückwand verborgen. Weder goldschnittrandig und vornehm ledergebunden wie die bei der Frau Bürgermeister noch abgegriffen und speckig wie in der Borromäusbücherei. Auch nicht ungelesen nach Kundschaft schreiend wie im Buchladen, oder nach Farben und Größen sortiert wie bei Doris’ Eltern, wo ebenso gut Nippes, Blumen oder Photos die Regale hätten füllen können, Bücher aber die Bildung der Familie bezeugen sollten. Die Bücher der Kowalskis glichen dem Werkzeug des Vaters im Schuppen der Altstraße 2. Sahen benutzt aus, gebraucht, zugehörig denen, die sie besaßen. Zugehörig durch Gebrauch. Angeeignet. Ihre alten Bücher, erklärte Astrid, hätten die Eltern auf der Flucht im Krieg ja nicht mitnehmen können. Doch der Vater sei nicht nur in der IG Metall aktiv, Vertrauensmann seit neuestem, auch Mitglied in der Büchergilde Gutenberg sei er.
Ich beugte mich tiefer zu den Büchern. Ungefähr wusste ich, was das war, die IG Metall, eine Gewerkschaft, etwas für
Proleten, die mehr Geld forderten, streikten. Was die Wirtschaft - was immer das war - in Gefahr bringen konnte. Doch ein Vertrauensmann?
Die Frage nach der Büchergilde Gutenberg drängte sich fast ohne mein Zutun auf die Lippen.
»Jeder kann Mitglied werden und bekommt dann jedes Vierteljahr ein Buch«, erklärte Astrid.
»Egal, welches? Aber warum nur eins?«
»Jedes Buch«, bestätigte Astrid. »Aber viel billiger. Nicht nur eins. Alle.«
»Alle?« Ich konnte es nicht glauben. »Warum werden dann nicht alle Leute Mitglied?«
»Naja«, druckste Astrid. »Jedes Buch, das die Büchergilde anschafft. Schund gibt es da nicht.«
»Und Sartre?«, forschte ich.
»Bis jetzt noch nicht«, musste sie zugeben. Es dauerte eine Weile, bis ich aus ihr herausbekommen hatte, dass es nur »qualitätvolle und gut verkaufte Bücher« als Sonderdrucke und damit billiger gab, allerdings erst eine Weile nach Erscheinen der Originalausgabe. Astrid hatte einen klaren, genauen, aber nervenaufreibend langsamen Kopf und war aus Angst, etwas auszulassen, in den eigenen vier Wänden noch langsamer als in der Schule. Gutmütige Naturen wie Rebmann stellten ihr mitunter kurz vor der Pause eine Frage, die sie in aller Ruhe beantworten konnte. Klassenarbeiten brachte sie ohnehin kaum rechtzeitig zu Ende.
Während ich ihr nach und nach die Geheimnisse der Büchergilde entlockte, musterte ich gleichzeitig die Bestände. Alfred Anderschs Die Kirschen der Freiheit und Die Rote fand ich, Hans Hellmut Kirst mit 08/15 , Ignazio Silone, Erich Kästner, E. T. A. Hoffmann und Thornton Wilder, Ernest Hemingway, Jack London, Nikolai Gogol. Golo Manns
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