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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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den Teller. Kowalski nahm die Flasche in die rechte Hand, stemmte die linke in die Hüfte und ließ den Verschluss mit dem Daumen aufschnappen. Es schäumte, schäumte aufs Tischtuch, »ein Glas«, rief ich, »wo ist das Glas«, die Mutter sprang auf, Astrid sprang auf, doch Kowalski hatte die Flasche längst an den Lippen, schluckte glucksend, wobei ihm der Adamsapfel die Kehle hinauf- und hinunterfuhr, setzte die Flasche zurück auf den Tisch und brach in schallendes Gelächter aus, als Frau und Tochter gleich zwei Gläser vor ihm hinstellten.
    »Haha, reingefallen! Wann hab ich denn jemals Bier aus dem Glas getrunken! Unsere Hilla hat doch bestimmt nichts gegen einen Schluck aus der Pulle! Prost.«

    Kowalski schwenkte die Flasche zu mir herüber, und ich hatte schon Angst, er würde mir einen Schluck anbieten, aber er war schon wieder in seinem Betrieb. »Und dann! Wenn ich das schon höre! Die lügen doch, wenn die den Mund aufmachen! Arbeitgeber! Arbeitnehmer! Hast du schon mal darüber nachgedacht, was das heißt?«, wandte sich der Mann mit einem Ruck seines starken Körpers an mich.
    »Äh, ich«, stotterte ich überrascht, was gingen mich Kowalskis Fabrikgeschichten an? »Also: Arbeitgeber, der gibt den Arbeitnehmern was zum Arbeiten, damit die Geld verdienen.«
    »Ha! So hätten sie es gern! Das sollen wir glauben! Wer nimmt denn die Arbeit von wem? Der Unternehmer, der Fabrikbesitzer. Der krümmt doch keinen Finger! Alles, was der hat, sind ein paar Maschinen, an denen wir - wir!«, Kowalski schlug sich mit beiden Fäusten auf die Brust, »wir arbeiten. Wir sind es, die die Arbeit geben, unserer Hände Arbeit. Und nehmen tut sie - der Kapitalist!« Kowalski schnitt sich ein Stück Wurst ab, kaute und spülte es mit einem Schluck aus der Flasche runter. Astrid rutschte immer weiter auf ihrem Stuhl nach vorn und verbarg kaum ihre Erleichterung, als ich aufsprang, um den letzten Bus zu erreichen. Wir sahen uns nicht an; wussten beide, dass später noch Busse fuhren.
    Astrids Vater schlug mir zum Abschied wieder die Hand auf die Schulter und bat mich herzlich, beim nächsten Mal mehr Zeit mitzubringen. In seinem rechten Mundwinkel klebte Eigelb. Astrids Mutter legte nicht einmal die Zigarette aus der Hand, nickte mir zu und wünschte einen Guten Abend.
    Im Treppenhaus drang durch die dünnen Wände die Stimme des Nachrichtensprechers: Dreihundertzwanzigtausend Arbeiter in der Metallindustrie ausgesperrt. Härteste Machtprobe seit Bestehen der Bundesrepublik. Streik droht sich auf Nordrhein-Westfalen auszuweiten.
    Hinter mir fiel die Haustür ins Schloss. Daher also wehte bei Kowalskis der Wind.
    Büchergilde, Heine, Zuckererbsen, Tarifrunde, Streik, Aussperrung, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, und wie selbstgewiss Kowalski das Ei geköpft hatte. Was unterschied Astrids Familie von meiner? Arm waren wir beide. Doch unsere Armut, der Mangel der Altstraße 2, wurde anders erfahren und gelebt.
    Die Armut der Familie Palm war eine verdrossene, gleichwohl erduldete Armut. Sie wurde hingenommen. Weil sie erträglich war. Da war das eigene Häuschen, auch wenn es weniger Platz bot als die Genossenschaftswohnung der Kowalskis. Da war der Garten, in dem man frei entscheiden konnte, ob man Erbsen oder Möhren oder beides ziehen wollte. Dann musste man aufs Gedeihen hoffen, was wiederum eine Ergebenheit lehrte, wie sie vielen Landleuten eigen ist. Eine Ergebenheit, die weiß, wie wenig es nützt zu hoffen, zu hadern oder zu beten, und sei es nur darum, dass die Bohnenernte nicht verdorrte. Dennoch: Hier war man sein eigener Herr, und der Vater hatte seinen Schuppen, seine Werkzeuge, die er erfinderisch zu nutzen verstand.
    Und dann die Dorfgemeinschaft. Meine Familie zählte zu den Eingesessenen. Eingesessen. Ein Wort, das mir gefiel, dickärschig, behäbig, nicht von der Stelle zu kriegen. Eingesessen, hineingesessen, immer tiefer hinein in das Leben im Dorf. Einen festen Platz haben. Einen angestammten Platz. Angestamm-t wie Äste und Zweige, getragen vom Stamm. Anerkannt. Sicher.
    Und das alles gekrönt von der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, was weit mehr meinte als den sonntäglichen Kirchgang. Wir alle, das ganze Dorf, jedenfalls alle, die zählten, waren römisch-katholische Gotteskinder. Ein jeder von uns auf einem angestammten, von Seiner Hand angewiesenen Platz. Oben und unten, arm und reich: vorherbestimmt seit Ewigkeit. Gottes Kind sein. Die Kirche gab Halt. Verhinderte ein Abrutschen in die Armut als

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