Aufbruch - Roman
Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts , Ricarda Huch, von der ich Liebesgedichte kannte, stand hier mit einem gelehrten Buch: Römisches Reich Deutscher Nation .
In der obersten Reihe, wo bei uns die Hummelfiguren tanzten, fiel eine dunkelgrüne, ledergebundene Buchreihe ins Auge, die weit besser in den Schrank der Frau Bürgermeister gepasst hätte. »Heine« war den zwölf verblichenen Rücken in goldenen Zierbuchstaben eingeprägt. Ich sah Astrid fragend an. Sie nickte mir zu, und ich löste den ersten Band sorgfältig von den anderen - und hätte ihn beinah fallen gelassen, so erschrak ich, als der Buchleib aus dem steifen Einband rutschte und ich beides gerade noch auffangen konnte.
»Keine Sorge, das war schon so«, beruhigte mich Astrid. »Wir hätten es längst neu binden lassen müssen. Du kannst dir die Bücher alle anschauen.«
Jedes Buch zeigte auf braungrünem Leder Heine im Profil, den Kopf mit geschlossenen Augen in die Hand gesenkt wie die Engelchen auf den Dondorfer Kindergräbern; welliges, halblanges Haar, ein gerundeter Kinnbart, die schmale Nase, der nach unten gebogene Mund, ein Gesicht, zart und verletzlich, darüber konnte auch der Rahmen aus goldenem Rankenwerk nicht hinwegtäuschen. Wie traurig und müde er aussah, der Dichter, von dem ich nur das eine Reclam-Heft kannte, dass mir Rosenbaum mit auf den Weg gegeben hatte. Mein Bild von ihm war das eines Verführers und Rebellen, eines lustigen frechen Kerls, der in Austernkellern schlampampte und Fräuleins verspottete, ob am Teetisch oder seufzend am Meere bei Sonnenuntergang. Schon mit dem frommen Mütterlein in der Wallfahrt nach Kevlaar hatte ich den fröhlichen Spötter nicht zusammenbringen können, bis ich das Gedicht schließlich für eine beinah bösartige Satire auf den Nutzen des Gebets genommen und so mein Bild des Dichters sichergestellt hatte.
Der traurige Poet dieser prächtigen Bände war mir fremd.
»Das ist doch nicht aus der Büchergilde?«, forschte ich.
Während ich mich in die Züge des Dichters versenkte, erzählte Astrid auf ihre umständliche Art die Geschichte der Bücher. Schon beim Erscheinen habe ihr Urgroßvater die Ausgabe
erworben - erworben, sagte Astrid, nicht gekauft. Subskribiert, das heißt, schon im Voraus bezahlt, habe er sie, damit es billiger wurde. Dennoch habe er dafür Schulden machen müssen. Für Bücher! Astrid blies die Backen auf. Aber der Urgroßvater habe lieber auf Tabak und seinen Wacholder verzichtet, als auf diese Bücher, die er seinem ältesten Sohn vermacht habe und der wiederum dem seinigen, ihrem, Astrids, Vater. Bei seinem letzten Heimaturlaub 1944 habe er die Koffer für die Flucht der Familie gepackt, nur das Nötigste. Und den Heine. Alle zwölf Bände. Ob die Mutter davon gewusst hatte, wisse sie, Astrid, nicht. Nur, dass es zum Streit zwischen den Eltern gekommen sei, als die Mutter in dem kalten Winter 1946 die Bücher habe verkaufen wollen, für Essen und Briketts. Erst der Einwand des Vaters: »Wer gibt heute schon Geld aus für Bücher?«, habe die Mutter dazu gebracht, den Heine wieder aus dem Hamsterkoffer auszupacken. Was war die ganze Büchergilde Gutenberg gegen diese Rechtmäßige Original-Ausgabe - Heinrich Heine’s sämmtliche Werke aus dem Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1865!
Ich stand und staunte.
»Soll ich dir mal mein Lieblingsgedicht vorlesen?« Zielsicher griff Astrid zu, blätterte kurz und mit einer Stimme, in keiner Weise schleppend und zaghaft, begann sie: »Deutschland. Ein Wintermärchen.« Brach ab, sah mich an und erklärte, dies wieder auf ihre umständliche Art, dass sie nicht alle Verse vorlese, nur eben ihre liebsten, und ich könne mich ruhig setzen. Deutschland. Ein Wintermärchen.
Sich die Stimme des Dichters zu eigen machend, war das gehemmte Mädchen kaum wiederzuerkennen. Eins, zwei, drei, vier, schlug sie mit der Fußspitze den Takt, es klang flott und kühn auf dem beigegrauen Linoleum, und dann verkündete Astrid Kowalski aus dem Rapunzelgässchen mir, Hilla Palm aus der Altstraße 2:
»Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich Euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen
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