Aufbruch - Roman
entleert und sein Inhalt lautlos geschluckt werden konnte.
Steil auf ihrer Wirbelsäule balancierend, zu vornehm zum Anlehnen, brauchte die Mutter mit dieser Art der Suppenzufuhr fast doppelt so lange wie ihre beiden Söhne, die mehrfach ermahnt werden mussten, das Schlürfen zu unterlassen, das Wippen zu unterlassen, das Spielen mit dem Brot zu unterlassen, das Kichern zu unterlassen, bis sie apathisch auf den Ellenbogen über dem Tischrand hingen und gemahnt wurden, auch das zu unterlassen. Dann gab die Hausherrin dem Fräulein Marie ein Zeichen, mit dem Servieren fortzufahren. Rotkohl und Kartoffeln. Die am oberen Ende erhielten dazu ein Kotelett, mir legte Fräulein Maria, immerhin mit derselben silbrig blinkenden Zange wie für die Fleischstücke, ein Wiener Würstchen vor.
Mit äußerster Delikatesse, als behandelte ich eine Antiquität, nahm ich Messer und Gabel in die Fingerspitzen und betupfte das Würstchen, diese saucisse, einfach köstlich, ein Fest für Gaumen und Augen. Näherte mich mit der Gabel seiner Haut, drückte sie, dellte sie ein, drang auf sie ein, ruckte ein wenig, sie platzte, unter einer Zinke zuerst, es folgten die anderen, die Gabel saß, nun war es am Messer, das Werk zu vollenden, knapp hinter die Zinken zwang ich die Schneide, drängte ins Saftige, Runde, durchs Harte ins Weiche, da saß es auf der Gabel, das wurstige Stück und nahm seinen Weg durch die Wagenstein’sche Esszimmerluft zum Kenk-vun-nem-Prolete-Mund,
den ich nicht minder O-schön zu runden wusste als die Hausherrin den ihrigen in Erwartung des Suppenlöffels. Ich speiste, tafelte, schlemmte das Würstchen, schnörkelte mir die Bissen zwischen die Zähne, kaute ausführlich mit malmendem Kiefer, schob die Masse von einer Backentasche in die andere, schnalzte sachkundig mit gespitzten Lippen, verdrehte die Augen. Tafelte und dachte an den Großvater. Wie er mit den Fingernägeln die Töne von den Zinken seiner Gabel gepflückt, das Klingen in ein Glas Wasser versenkt oder vom Tisch gestupst und dann das feine Sirren dem Bruder aus den Ohren, mir aus dem Bauch oder einfach aus der Luft zurückgeholt hatte. In seiner Hand waren der Griff der Gabel und das Geheimnis des Klangs sicher verborgen gewesen.
Später, da war der Großvater schon lange tot, verriet mir Hanni den Trick, lehrte mich das Gabelzinkenpflücken: so zu tun, als hielte ich den Klang in der Hand, um dann mit dem Griff der Gabel im richtigen Moment verstohlen den Tisch zu streifen, den Tisch oder das Frühstücksbrettchen, Holz musste es sein, was die noch andauernden Klangwellen wieder hörbar machte, wobei ich mich irgendwohin bücken oder strecken musste, als kämen die Töne von dort.
Sekundenlang war ich enttäuscht gewesen, das Geheimnis der singenden Gabel nichts als ein Geschicklichkeitsspiel, dann aber hatte der Stolz des Eingeweihtseins überwogen, und ich hatte erst Bertram, dann, auf Namenstags- und Geburtstagsfesten, Mädchen und Jungen unzählige Gabeltöne aus Mund und Nase, den Haaren gezogen.
Ich warf einen Blick auf Frau Wagenstein und die Knaben, wischte die Gabel an der Serviette, die meine aus Krepp, die der anderen aus Leinen, ab, wartete, bis man am oberen Ende des Tisches das Esswerkzeug hatte auf den Kotelettteller sinken lassen und begann. Zupfte mit meinen necessairegestutzten Fingernägeln silbrige Töne von silbrigen Zinken, ließ sie ins Glas tropfen, sprang auf und holte sie, Mahagoniplatte und Gabelgriff diskret vereinend, mit elegantem Schwung aus den
Ohrläppchen von Alf und Ralf und dem Haarturm der Mutter zurück.
Die - »Was erlauben Sie sich?« - mich brüsk auf meinen Platz verwies, während Alf und Ralf nicht ablassen konnten, mir verstohlene Blicke zuzuwerfen, in die sich Respekt und Neugier mischten. Ihr Vertrauen war mir sicher.
Oben wurde ein zweites Kotelett serviert, es gab Apfelmus für alle, Kaffee für die Dame des Hauses, Saft für die Jungen, Wasser für mich. Frau Wagenstein erhob sich, mahnte das Fräulein Palm zur Ernsthaftigkeit - »Keine Fisimatenten!« -, die Jungen zum Fleiß - »Kostet alles Geld!« -, und dann brachte uns die Hausdame zu den Zimmern der Jungen, wo ein Streit entstand, in welchem der Zimmer der Unterricht stattfinden sollte, was Ralf, der Ältere, für sich entschied.
Der Raum so groß wie das ganze Erdgeschoss der Altstraße, Küche, Wohnzimmer, Flur. Ein Bücherregal bis unter die Decke. Ein Schreibtisch, groß wie ein Lehrerpult. Eine grüne Schiefertafel. Ein Globus. Eine
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