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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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er mit Frau Wagenstein reden. Das tat er, musste mir aber gestehen, dass er nichts habe ausrichten können. Doch die gute Leistung der beiden sei ja auch ein Erfolg für mich und Lohn an sich.
    In den nächsten Stunden prägte ich Alf und Ralf mit noch mehr Nachdruck ihr Pensum ein. Geduldig diktierte ich ihnen Satz für Satz in ihre Hefte, Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, unregelmäßige und regelmäßige Verben, aktiv und passiv. Ich
werde getreten, ich wurde getreten, ich bin getreten worden, ich war getreten worden, ich werde getreten werden, ich werde getreten worden sein. In der nächsten Klassenarbeit schrieben die Brüder eine sechs.
    Rebmann rief mich zu sich. Frau Wagenstein, Frau Direktor Wagenstein - er also auch, dachte ich -, sei bei ihm gewesen. Mit den Heften ihrer Söhne. Was ich mir denn dabei gedacht hätte?
    »Hier!« Rebmann ließ die Seiten flattern. Die Frau Direktor habe ihm die Hefte zur Begutachtung gegeben. Die Frau Direktor, wiederholte er kopfschüttelnd, und diesmal glaubte ich, Anführungsstriche vor und hinter dem Direktor herauszuhören, die Frau Direktor, sagte Rebmann zum dritten Mal, dabei das O mutwillig in die Länge ziehend, bis ich sicher sein konnte, auf wessen Seite der Lehrer stand, die Frau Direktooor könne sich die beiden Ungenügend nicht erklären, wo sich die Jungen doch derart viel Mühe gegeben hätten, alles akkurat so aufzuschreiben, wie von mir diktiert, und auswendig zu lernen, Wort für Wort. Sehen Sie selbst, habe sie gesagt, wie sauber und deutlich. So eine schöne Handschrift.
    »Und wirklich«, Rebmann sah mich durchdringend an, »an der Form ist nichts auszusetzen. Aber der Inhalt! Ihnen ist klar, dass ich das eigentlich nicht durchgehen lassen kann. Eigentlich. Ich tue das nicht. Ich kann mir einiges zusammenreimen. Hier haben Sie die Hefte. Ins Feuer damit. Auf Ihre Nachhilfe wird das Haus Wagenstein wohl verzichten müssen. Haben Sie denn nicht an die Kinder gedacht?«
    Doch, hatte ich. Aber die würde so schnell nichts von ihrem Stammplatz im Leben abdrängen können. Auch nicht zwei Hefte, in die ich ihnen die Regeln als Ausnahmen, die Ausnahmen als Regeln diktiert hatte. Was meinen Grammatikkenntnissen spielend zugutegekommen war. Doch ich fühlte mich elend, als Rebmann das Thema der Hausaufgabe diktierte: »Darf Rache so weit gehen, dass sie auch Unschuldige trifft?«

    In meinem Schuppen saß ich bis tief in die Nacht, grübelte und stocherte in meinem Schiller, bei Platon, Sokrates, im Lateinbuch. Die Antworten waren Ohrfeigen. Ich hatte es gewusst. Ich hatte sie verdient. Conscientia mala facinora flagellantur. Schlechte Taten werden vom Gewissen gegeißelt.
    Natürlich durfte die Rache das nicht: Lag doch auf der Hand, die mich schmerzte, so krampfhaft hatte ich Halt an dem Stift, der sich nicht übers Papier bewegen wollte, gesucht. Es wurde dunkel, und schließlich rief mich das Murren der Mutter ins Haus. Ich schüttelte den Arm und schrieb dann aus dem Handgelenk: »Die Frage ist so gestellt, dass sie nur mit Nein beantwortet werden kann.«
    So gab ich das Heft am nächsten Morgen ab.
    Rebmann ließ sich mit der Rückgabe Zeit. Tage später fingen Ralf und Alf mich nach der Schule ab, kurz bevor ich in den Stadtpark einbiegen wollte. Ich hatte Zeit, der Bus kam erst in einer halben Stunde, und ich genoss jeden Tag das kurze Stück Weg zwischen Büschen und Blumenrabatten, den Bächen, dem Springbrunnen.
    »Schade, dass du nicht mehr kommst«, sagte Ralf und leckte sich die Lippe. »Hier ist ein Brief von der Mutter.«
    »Ich habe jetzt einen Hamster«, sagte Alf. »Ich wollte ihn Hilla nennen. Das hat die Mutter verboten. Jetzt heißt er Halli. Wie findest du das? Wörterverdrehen ist gigantisch.«
    Ehe ich antworten konnte, mahnte der Chauffeur, der in diskretem Abstand die Übergabe des Briefes beobachtet hatte, zur Eile. Offenbar war ein Kontakt der Kinder zu mir nicht mehr erwünscht.
    Kaum hatten sie mir den Rücken gekehrt, riss ich das Kuvert auseinander.
    Auf dickem Papier mit sepiabraun geprägtem Briefkopf des Herrn Direktor Wilfried Wagenstein war unter Ort und Datum in Schreibmaschinenschrift zu lesen, Pica normal, die mich ein Jahr lang gequält hatte:
    Betrifft: Kündigung des Dienstverhältnisses der Unterprimanerin H.P. im Hause Direktor Wilfried Wagenstein.
     
    Sehr geehrtes Fräulein Palm, hiermit sehen wir das Dienstverhältnis zu Ihnen als gelöst an. Sie haben unseren Erwartungen weder fachlich noch charakterlich

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