Aufbruch - Roman
Kindern helfen zu dürfen. Ich hörte mich reden, sah wie die Augenbrauen der Frau sich hoben, die Lippen sich kräuselten, wie ich ihr mit jedem Wort weiter erlaubte, immer wirklicher Frau Direktor zu werden, bis sie mich schließlich unterbrach: »Also drei Mark die Stunde. Und jetzt zu Tisch.«
Hätte sie fünfzig Pfennig gesagt, ich hätte nicht widersprochen, nicht widersprechen können, wäre ihr gefolgt, wie ich ihr jetzt folgte, hinterherschlich, auf leisen Sohlen ihren klappernden Pfennigabsätzen hinterher, die Aktentasche umkrampfend, meine Bücher, meine Hefte, mein Wissen-ist-Macht, ihr hinterhertrug, drei Mark die Stunde lang, ihr hinterher.
Im Esszimmer wurde mir von der Frau, die mir die Tür geöffnet hatte und deren erhitztes Gesicht zeigte, dass sie auch fürs Essen zuständig war, mein Platz am unteren Ende des Tisches angewiesen, eines Tisches, so ausladend, dass er in keines unserer Altstraßenzimmer gepasst hätte. Meine Arbeitgeberin saß mit Ralf und Alf am anderen Ende unter dem Porträt einer Dame in einem altertümlichen Gewand, Ringellöckchenfrisur, der Rahmen sah teuer aus, viel Gold und Schnörkel. Zwischen der Gruppe oben und mir unten drei Stühle Abstand. Ein Strauß in der Mitte des Tisches versperrte die Sicht zwischen Arbeitnehmerin und Arbeitgeberin.
»Nun, Fräulein Halm«, richtete die Hausherrin das Wort an mich.
»Palm«, schrien die Jungen. Ralf, der mit dem Zeigefinger immerfort sein rechtes Augenlid rieb. Alf, der sich fortwährend mit der Zunge über die Oberlippe fuhr, deren Rand entzündet leuchtete. Ralf und Alf. Ralf, der Ältere, mit einem Buchstaben mehr, wie er mir verraten hatte. Sitzenbleiber, was man in diesen Kreisen »Wiederholer« nannte. Nicht nur mit Geld, dachte ich, sogar mit Wörtern verstehen sie es, ihr Leben zu polstern.
»Palm«, korrigierte sich Frau Wagenstein wegwerfend und fügte hinzu: »Bei Tisch wird nicht geschrien. Aus Dondorf also kommen Sie? Wie lebt es sich denn in diesem Städtchen?«
Sie hatte den Sieg über mich davongetragen und spielte nun vor den Kindern die vollendete Gastgeberin, wollte »die Gedankenbälle hin und her werfen, damit jeder zu seinem Recht kommt«, wie es im Einmaleins des guten Tons hieß, und »das Gefühl erwecken, dass der Gast immer der Wichtigere ist«. Widerwillig bemerkte ich, dass ich der Frau, die meine Unsicherheit so rücksichtslos ausgenutzt hatte, dankbar war, dankbar für ihre freundliche Ansprache, auch wenn mich die gespielte Sanftheit ihrer Stimme nicht über ihre Härte, ja, Kälte, hinwegtäuschen konnte. Doch brachte mich die floskelhafte Frage nach dem Leben in Dondorf, eben weil sie alles andere war als wirkliche Anteilnahme, wieder zu mir. Wie froh war ich, vor Jahren, im heißen Sommer meines ersten Jahres in der Realschule, die Flinte nischt ins Korn von isch und misch und disch geworfen zu haben. Wie mühelos gelang es mir nun, der Direktorsgattin im Tone einer Freifrau von Briest mit ein paar Sätzen im Stile Fontane’scher Konversation zu begegnen, wobei es in meinem Hinterkopf hämmerte: drei Mark die Stunde, drei Mark die Stunde, was mich zu immer wilderen Ausschmückungen dörflicher Idylle anstachelte, um das hämische Stakkato zum Schweigen zu bringen.
Frau Wagenstein erhob sich, schob den Rosenstrauß ein wenig zur Seite, nahm wieder Platz. Ihre blassgrauen Augen starrten mich an, als hätte eine von uns den Verstand verloren. Ich aber hatte den meinen wiedergefunden, redete mich mit jedem meiner geschraubten Sätze näher an meine Vernunft zurück, eine kalte, böse, rachsüchtige Vernunft.
Dann senkten sich die Arbeitgeberaugen in den Teller, in die Suppe, die, während ich meine Sätze zelebrierte, aufgetragen worden war. Für die da oben. An meinem Platz fehlte der tiefe Teller. Fehlte der Löffel. Unten war keine Suppe vorgesehen. Mit knurrendem Magen schwadronierte ich von Tafelfreuden
im Hause Poggenpuhl, von deftigen Braten, dicken Suppen, Soufflés, während ich zusah, wie die da oben begannen; die Jungen mit hastigen, hungrigen Bewegungen, Schlürflauten auch und überladenen Löffeln, von denen bei jedem Bogen zum Munde Suppe zurück in die Teller platschte; die Frau hingegen, das Besteckstück am äußersten Ende kaum berührend, die Höhlung eben bis zur Hälfte mit Brühe füllend und mit ruhiger Hand einen spaltbreit über dem Teller verharrend, bis der Löffel, tropfenfrei an die zum O geformten Lippen geführt, mit einer leichten Kippbewegung in den Mund
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