Aufbruch - Roman
Deutschlandkarte. Eine Karte der heimischen Vögel. Ein Fernseher. Stabilbaukasten, Legosteine, eine Gitarre. Penible Ordnung.
Wir rückten den Schreibtisch vom Fenster, damit Alf und Ralf mir gegenübersitzen konnten, und dann lieferte ich sie den Tücken der starken, schwachen und unregelmäßigen Verben aus, wobei ich ihnen lediglich den Stoff aus ihren Schulbüchern noch einmal vorsetzte. Mit einem Unterschied. Ich ließ sie Fehler machen, spornte sie geradezu zu Fehlern an, Fehlern, die sie auf den ersten Blick selbst erkannten. Gar nicht genug kriegen konnten sie von Falschmeldungen: »Ich komme, ich kommte, ich bin gekommt, ich lese, ich leste, ich habe gelest«, kichernd und lauthals lachend wurden sie geradezu erfinderisch: »Ich laufe, ich laufte, ich bin gelauft; ich kaufe, ich kief, ich habe gekaufen; ich liege, ich legte, ich habe gelogen; ich lebe, ich labte, ich habe gelobt.«
Bis die Mutter in der Tür stand. »Was ist hier los?«
Ralf und Alf nahmen Haltung an wie dressierte Pudel.
»Wir konjugieren: starke Verben«, sagte ich kühl. »Zum Beispiel: Ich esse Suppe. Ich aß Suppe. Ich habe Suppe gegessen. Und jetzt du, Ralf. Ein Buch lesen. Ich …«
»Ich lese ein Buch«, begann Ralf, und während Alf schon losprustete, fuhr Ralf fort: »Ich las ein Buch. Ich habe ein Buch gelesen.«
»Und jetzt du, Alf: fangen.«
Alf kniff ein Auge zusammen: »Ich fange, ich fing, ich habe den Ball gefangen.«
»Was es da wohl zu lachen gibt!« Die Tür schloss sich, und ich diktierte: »Bei starken Verben unterscheidet sich der Stammvokal - das ist der in der Mitte - der Vergangenheit von dem der Gegenwart, und das Partizip Perfekt wird gewöhnlich mit dem Präfix - das ist eine Vorsilbe - und der Endung -en gebildet. Klar?«
Die Jungen nickten zögernd.
»Was ist ein Partizip Perfekt?«, bohrte ich.
Schweigen.
Wort für Wort ging ich den Satz mit den Jungen durch, die willig folgten. Wir blasen, blies, geblasen; fangen, fing, gefangen; stehlen, stahl, gestohlen, von drei bis fünf, dann gebot Fräulein Marie: Feierabend. Die Brüder machten einen artigen Diener, die Mutter ließ sich nicht mehr blicken, und dann stand ich vor der Haustür und wusste nicht weiter. Keine Spur von einem Chauffeur. War hier irgendwo eine Bushaltestelle? Ich raffte meine Aktentasche untern Arm und machte mich auf, den langen, gewundenen Hügel hinab, gehen, ging, gegangen, durch den sonnenwürzigen Tann, hinab und hinan, laufen, lief, gelaufen, was willst du dir jetzt kaufen von zwei mal drei Demark, Verben schwach und stark. Wirklich tat es gut, durch den schattigen Tannenwald zu gehen - hätte ich den Weg nicht gehen müssen . Ich war müde, hungrig, wollte nach Hause. Irgendwo da unten auf der Landstraße musste ein Bus fahren. Ich stampfte auf und drehte dem Bungalow und seinen Insassen eine lange, lange Nase.
Drei Stunden brauchte ich vom Bungalow in die Altstraße 2. Sechs Mark in fünf Stunden, rechnete ich die Anfahrt dazu, kam ich auf eine Mark pro Stunde. Viel weniger als bei Maternus.
Bei den nächsten Mahlzeiten sagte die Frau Fräulein Holm zu mir, Fräulein Kram und Fräulein Frahm, und Alf und Ralf schrien jedesmal: »Fräulein Palm!« Auf dem Weg ans untere Tischende verwandelten sich Rindsrouladen, Beefsteaks, Hühnerbrust in Würstchen. Doch Alf schrieb in der nächsten Klassenarbeit eine zwei, Ralf eine drei, und am Monatsende zählte mir die Hausfrau mein Geld auf den Tisch: Zwei Zehn-Mark-Scheine. Vier Mark hatte sie mir fürs Essen abgezogen. Auf meinen Vorschlag, mich mit Broten selbst zu versorgen, reagierte sie mit einer Stimme, als widere sie jedes Wort an: »Aber Fräulein Salm! Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie sind es doch, die Nachhilfe braucht. Sie kommen aus keinem guten Stall. Aus keinem guten Stall!«, wiederholte sie, und ich musste widerstrebend bewundern, wie sie sich kaum die Mühe machte, ihre Lippen zu bewegen; vielmehr die Wörter, fast ohne die Zähne voneinander zu lösen, hervorstieß mit einer so verächtlichen Tonlosigkeit, die zu gespanntem Hinhören nötigte. »Sie sollten dankbar sein für jede Stunde, die Sie unter diesem Dach verbringen dürfen!«
Ich dachte an Rosenbaums Brief - Lachen ist Selbstverteidigung -, lächelte die Frau mit all der liebenswürdigen Falschheit, die ich ihr inzwischen abgeschaut hatte, an, steckte die Scheine ein und ging. Rebmann war zufrieden, obwohl auch er die Bezahlung für zu niedrig hielt; beim nächsten Elternabend werde
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