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Auferstehung 1. Band

Auferstehung 1. Band

Titel: Auferstehung 1. Band Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo N. Tolstoi
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heraufzubemühen! Man bittet Sie, heraufzukommen!«
    Nechludoff stieg die Treppe hinauf, durchschritt das große und prächtige Vorzimmer und trat in den Speisesaal, An dem großen Tische saß die ganze Familie Kortschagin mit Ausnahme von Missys Mutter, der FürstinSophie Wassiljewna, die ihre Mahlzeiten stets in ihrem Zimmer einnahm. Der alte Kortschagin saß oben an der Tafel; zu seiner Rechten hatte er den Hausarzt, zu seiner Linken seinen Freund Iwan Iwanowitsch Kolossoff, einen früheren Beamten und jetzt Mitglied des Aufsichtsrats einer Bank sitzen. Dann kamen links Miß Nedort, die Erzieherin von Missys kleiner Schwester und diese Schwester, ein vierjähriges Kind selbst; rechts, ihr gegenüber Missys Bruder, Petja, ein Gymnasiast der siebenten Klasse, der sich auf seine Examina vorbereitete, und ein junger Student, sein Nachhilfelehrer. Etwas weiter saßen Michael Sergejewitsch Telegin oder Mitja, der Sohn der Fürstin Kortschagin aus erster Ehe und eine arme Verwandte, Katharina Alexijewna, eine alte Jungfer und Slawophilin; und endlich, am Ende der Tafel, Missy, neben der ein Platz leer gelassen war.
    »Na, das ist recht! kommen Sie schnell! wir sind erst beim Fisch,« sagte der alte Kortschagin, und blickte Nechludoff mit seinen blutunterlaufenen Augen an.
    »Stephan!« rief er dem majestätischen Haushofmeister zu und gab ihm ein Zeichen, Nechludoff an den ihm bestimmten Platz zu führen.
    Nechludoff kannte den alten Kortschagin seit langer Zeit und hatte ihn schon oft bei Tische gesehen, aber an diesem Abend fiel ihm sein rotes und aufgedunsenes Gesicht, sein sinnlicher Mund, sein dicker Hals, seine ganze Gestalt, ja, sogar die Art, wie er einen Zipfel seiner Serviette in den Westenausschnitt steckte, unangenehm auf. Unwillkürlich fiel ihm ein, was man ihm alles von der Härte dieses Mannes erzählt, der zur Zeit, als er Provinzgouverneur gewesen, eine Reihe von Unglücklichen hatte erschießen und sogar eine große Zahl hatte hängen lassen.
    »Man wird Ew. Exzellenz sogleich auftragen!« sagte Stephan und nahm aus einer der Buffetschubladen einen großen Suppenlöffel, während der elegante Diener sich hinter den leeren Sessel stellte und auf Nechludoffs Teller eine Falte der künstlerisch in Fächerform zusammengelegten Serviette wieder in Ordnung brachte.
    Noch Nechludoff mußte zuerst um den Tisch herumgehen und jedem der Gäste die Hand schütteln. Jeder erhob sich von seinem Stuhle und reichte ihm die Hand, mit Ausnahme der Damen und des alten Kortschagin. Dieser Gang um den Tisch und diese Händedrücke an Personen,von denen er einzelne nie gesehen, das alles erschien ihm an diesem Abend ganz besonders lächerlich und unangenehm.
    Er entschuldigte sich, daß er so spät kam und wollte sich schon auf seinen Platz, zwischen Missy und Katharina Alexijewna, setzen, als der alte Kortschagin verlangte, er solle in Ermangelung eines kleinen Gläschens Branntwein wenigstens von den Vorspeisen nehmen. Nechludoff mußte an den kleinen Tisch treten, auf dem die Vorspeisen, der Hummer, Kaviar, Käse und die Anchovis standen. Er glaubte, keinen Hunger zu haben, doch als er von dem Kaviar gekostet, begann er gierig zu schlingen.
    »Na, haben Sie das Fundament untergraben?« fragte ihn Kolossoff, indem er den ironischen Ausdruck wiederholte, den ein reaktionäres Blatt in einem Artikel gebraucht hatte, der die Gefahren der Geschworenengerichte beweisen wollte: »Sie haben Schuldige freigesprochen und Unschuldige verurteilt, nicht wahr?«
    »Das Fundament untergraben! Das Fundament untergraben!« wiederholte der alte Fürst, sich vor Lachen wälzend. Er hatte ein unbegrenztes Vertrauen auf den Geist und das Wissen seines Freundes, dessen liberale Ansichten er voll und ganz teilte.
    Doch Nechludoff gab, selbst auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen, keine Antwort. Er setzte sich, that sich Suppe auf seinen Teller und aß mit größtem Appetit.
    »Lassen Sie ihn sich doch satt essen!« sagte Missy lächelnd mit einer Vertraulichkeit, die den freundschaftlichen Charakter ihrer Beziehungen deutlich verriet.
    Uebrigens hatte Kolossoff seine Frage schon vergessen, und besprach in heftigem und lautem Tone den Artikel der reaktionären Zeitung über die Geschworenengerichte. Michael Sergejewitsch gab ihm gleichzeitig das Stichwort und deutete auf die ungeheuerlichen Irrtümer eines andern kürzlich in demselben Blatte veröffentlichten Artikels.
    Missy war, wie stets, durchaus »vornehm«. Sie trug eine Toilette

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