Auferstehung 2. Band (German Edition)
Stelle beruhigte sich ihre Verzweiflung. Alles, was sie noch kurz vorher mit Angst erfüllt, das Gefühl, unmöglich weiter leben zu können, ihr Haß gegen Nechludoff, ihr Verlangen.
sich an ihm zu rächen, indem sie sich tötete, alle diese bösen Gedanken waren verschwunden. Sie war aufgestanden, hatte ihr Tuch wieder umgebunden und war nach Hause zurückgekehrt.
Aus jener Nacht stammte die vollständige Umwälzung ihrer Seele; damals hatte sie angefangen, das zu werden, was sie jetzt geworden war. In jener Nacht hatte sie aufgehört, an Gott zu glauben, an den sie bis dahin geglaubt, und hatte gedacht, auch die andern glaubten an ihn; doch in jener Nacht hatte sie sich gesagt, es gebe keinen Gott, niemand glaube an ihn, und die, die von Gott und seinen Gesetzen sprächen, hätten keine andere Absicht, als sie zu täuschen. Der Mann, den sie liebte und der auch sie geliebt, der sie verführt und verlassen, war noch der beste von allen. Die andern waren noch schlimmer! Alles, was Katuscha in der Folge zugestoßen war, hatte nur dazu beigetragen, sie in dieser Ueberzeugung zu bestärken. Nechludoffs alte Tanten, diese frömmlerischen alten Weiber, hatten sie an dem Tage fortgejagt, da sie nicht mehr im stande war, so viel wie früher zu arbeiten. Von verschiedenen Personen, mit denen sie zu thun gehabt, hatten die einen – vor allem die Frauen – nur eine Ware, mit der sie Geld verdienen konnten, die Männer, von dem Stanovoj bis zu den Gefängnisschließern, nur die Befriedigung ihrer sinnlichen Lüste in ihr gesehen. Niemand in der Welt kümmerte sich um etwas anderes, als um die Befriedigung seiner Lüste. Das hatte ihr namentlich der alte Schriftsteller begreiflich gemacht, dessen Geliebte sie einst gewesen war; er hatte ihr offen heraus erklärt, die Befriedigung der sinnlichen Lüste wäre die einzige Klugheit, die einzige Schönheit des Lebens.
Jeder in der Welt lebte nur für sich, und alles, was man von Gott und dem Guten sprach, war nur Schwindel! Das dachte die Maslow, und wenn sich ihr zufällig die Frage aufdrängte, warum alles in der Welt so schlecht eingerichtet wäre und die Menschen sich nur gegenseitig quälten, anstatt das Leben in Ruhe zu genießen, dann drängte sie diese lästige Frage schnell zurück. Eine Cigarette, ein Glas Branntwein, und sie fühlte sich wieder vollständig beruhigt.
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Der folgende Tag war ein Sonntag. Um fünf Uhr morgens, sobald der Pfiff des Wächters im Gange des Gefängnisses ertönte, weckte die Korablewa ihre Nachbarin, die erst gegen Morgen hatte einschlafen können.
»Zwangsarbeit!« sagte sich die Maslow entsetzt, während sie sich die Augen rieb und unwillkürlich die stinkende Pestluft des Saales einatmete. Sie wäre gern wieder eingeschlafen, um sich von neuem in das Reich der Bewußtlosigkeit zu flüchten, doch die Gewohnheit und die Furcht hatten den Schlaf verjagt, und so setzte sie sich denn in ihrem Bette auf, ließ die Füße herunterhängen und fing an, sich umzusehen.
Sämmtliche Weiber waren schon wach, nur der kleine Junge und das Mädchen schliefen noch. Ihre Mutter zog vorsichtig an dem Kittel, auf dem sie lagen. Die wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilte Frau breitete vor dem Ofen Strohwische aus, die als Windeln für den Säugling dienten, während dieser auf Fenitschkas Armen zappelte, weinte und schrie, ohne daß die zärtlichen Worte der jungen Frau ihn zu beruhigen vermochten.
Die Schwindsüchtige hatte mit blutunterlaufenem Gesicht, während sie ihre Brust mit beiden Händen hielt, ihren Morgenanfall, und stieß in den Zwischenpausen tiefe Seufzer aus, die wie Schluchzen klangen. Die Rothaarige blieb auf dem Rücken liegen und zeigte auf dem Bett ihre dicken, nackten Beine; dabei erzählte sie mit lauter, heiterer Stimme einen verwickelten Traum, den sie eben gehabt hatte. Das alte bucklige Weib stand vor dem Heiligenbild, murmelte immer dieselben Worte und schlug, sich tief verneigend, das Kreuz. Die Tochter des Kirchendieners hatte sich auf ihr Bett gesetzt und starrte mit ihren großen, von der Schlaflosigkeit erschöpften Augen vor sich hin, während die »Schönheit« ihre fettigen, schwarzen Haare über ihre Finger rollte.
Schwere Männerschritte ließen sich auf dem Gange hören, die Thür öffnete sich, und zwei Gefangene traten ein, zwei Männer mit mürrischer, brummiger Miene, die graue Leinwandjacken und graue, bis über die Kniee hochgekrempelte Hosen trugen. Sie hoben den stinkenden
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