Auferstehung 2. Band (German Edition)
rief mit dumpfer Stimme: »Milch, Milch, Milch!«
Der erste warme Frühlingsregen war in der Nacht gefallen. Ueberall, wo das Pflaster es nicht erdrückte, wuchs das Gras. Die Birken hatten sich in den Gärten mit frischem Grün geschmückt, die Maulbeerbäume und Pappeln zeigten ihre langen, duftigen Blätter. Auf den Straßen wurden langsam die Thüren geöffnet; doch auf dem Trödelmarkt, über den Nechludoff gehen mußte, waren schon viele Menschen. Männer und Frauen drängten sich um die in Reihen aufgestellten Zelte, betasteten, maßen und feilschten um die Jacken, Westen und Hosen.
Auch in den Schenken waren schon Leute. Man sah hier Arbeiter in sauberen Jacken und leuchtenden Stiefeln, die hocherfreut schienen, den Anstrengungen der Fabrik für einen Tag entfliehen zu können; mehrere waren von ihren Frauen begleitet, die seidene Kopftücher in auffallenden Farben und mit Glasperlen garnierte Jackets trugen. Polizisten in großer Uniform, mit Pistolen im Gürtel, standen unbeweglich an den Straßenecken und warteten auf irgend einen Auflauf, der ihnen die Langeweile ein bißchen vertrieb. In den Alleen der Boulevards und auf dem noch feuchten Rasen der öffentlichen Plätze liefen Kinder und Hunde spielend umher, während die in Gruppen auf ihren Bänken sitzenden Ammen laut schwatzten. Ueberall in den Straßen erklang der Ton und das Echo der Glocken, das sich mit dem Lärm der über das Pflaster rollenden Wagen vermischte und die Menge zu einem ähnlichen Gottesdienst rief, wie der, der in der Kapelle abgehalten wurde. Einzelne Fußgänger schlugen, sonntäglich gekleidet, den Weg nach der nächsten Kirche ein.
Als Nechludoff nach dem Gefängnis kam, war dasselbe noch geschlossen.
Auf einem kleinen Platze, etwa hundert Schritt von der Thür, stand eine Gruppe von Männern und Frauen, von denen die meisten Pakete in der Hand hielten. Rechts von dem Platze erblickte man ein niedriges Holzgebäude, links zeigte sich ein zweistöckiges Haus mit einem Schilde. Im Hintergrunde sah man den ungeheuren steinernen Eingang des Gefängnisses, vor dem ein Soldat mit dem Gewehr auf der Schulter Wache hielt. Vor dem Schalter der Holzbaracke saß ein Aufseher, der eine gallonierte Uniform trug und ein Register auf den Knieen hielt. An ihn wandten sich die Besucher, um die Namen der Gefangenen, die sie zu sprechen wünschten, einschreiben zu lassen.
Nechludoff näherte sich ihm und sagte: »Die unverehelichte Katharina Maslow!« Dann fügte er fragend hinzu: »Warum läßt man die Leute denn nicht eintreten?«
»Die Messe wird gerade abgehalten,« versetzte der Aufseher, »sobald sie zu Ende ist, können Sie hinein!«
Nechludoff näherte sich der Gruppe der Besucher, aus der in demselben Augenblick ein in Lumpen gekleideter Mann mit nackten Füßen und einem von roten Furchen durchzogenen Gesicht trat, der sich bis zum Thor des Gefängnisses schlich.
»Höre mal, wo willst du denn hin?« rief ihm der Soldat zu und fuhr mit der Hand nach dem Gewehr.
»Na, was hast du denn so zu brüllen?« versetzte der Mann, indem er langsam umkehrte, ohne sich über das Geschrei des Soldaten weiter aufzuregen. »Du willst mich nicht 'reinlassen? Nun gut; dann werde ich warten. Hat man je einen Menschen so brüllen hören? Als wenn der Herr ein General wäre!«
Ein zustimmendes Lachen begleitete diesen Scherz. Die Besucher waren meistenteils schlecht gekleidete arme Leute, andere waren sogar ganz zerlumpt; nur einige wenige Männer und Frauen waren elegant gekleidet. Neben Nechludoff stand ein sorgfältig rasierter dicker Mann mit rosigem Gesicht, im Gehrock, der ein schweres Paket in der Hand trug, das Wäsche zu enthalten schien. Nechludoff fragte ihn, ob er zum erstenmale nach dem Gefängnis käme. Nein, der Mann mit dem Paket war schon sehr oft gekommen und kam jeden Sonntag. Er erzählte Nechludoff seine ganze Geschichte. Er war Portier in einem Bankhause, und der Gefangene, den er besuchte, war sein Bruder, der wegen Fälschung verurteilt worden.
Gerade, als der brave Portier, der über sich alles gesagt, Nechludoff ausfragen wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Mietskutsche abgelenkt, aus der ein junger Student und eine Dame in hellem Kleide stieg. Der Student hielt ein dickes Paket in der Hand, ging auf Nechludoff zu und fragte ihn, ob er wohl glaube, daß man ihm gestatten würde, den Gefangenen eine Ration Weißbrot zu geben, das sein Paket enthielte. »Meine Braut hat diese Idee gehabt; diese junge Dame dort
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