Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auferstehung 3. Band (German Edition)

Auferstehung 3. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 3. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Gerichte hätten den Zweck, den gegenwärtigen Zustand aufrecht zu erhalten. Die Gerichte haben einen doppelten Zweck: erstens zu verbessern...«
    »Eine hübsche Besserung, die sich aus dem Gefängnissystem ergiebt,« rief Nechludoff.
    »Zweitens: diese verrohten und vertierten Wesen, die eine Drohung für das sociale Leben bilden, unschädlich zu machen.«
    »Und ich sage Ihnen, die Gerichte erfüllen weder das eine noch das andere! Von vernünftigen Strafen giebt es nur zwei, die beiden einzigen, die man früher gebrauchte: die Peitsche und der Tod!«
    »Nun, diese Behauptung hätte ich von Ihnen wahrhaftig nicht erwartet!«
    »Aber gewiß! Einen Menschen leiden zu lassen, um ihn an der Wiederholung einer Handlung zu hindern, die ihm Schmerz bereitet hat, das ist vernünftig; und einem Menschen, der für den andern Menschen gefährlich ist, den Kopf abzuschneiden, das hat auch einen Sinn. Doch welchen hat es, sich eines von der Faulheit und dem schlechten Beispiel bereits verdorbenen Menschen zu bemächtigen, um ihn in ein Gefängnis einzuschließen, in welchem die Faulheit für ihn zu einer Verpflichtung wird, und wo ihn die schlechten Beispiele auf allen Seiten umgeben? Oder welchen Sinn hat es, ihn auf Staatskosten – man hat mir gesagt, das koste nicht weniger als fünfhundert Rubel pro Mann – von dem Gouvernement Tula in das von Irkutsk oder Karsk zu befördern ...«
    »Aber die Leute fürchten doch diese Reisen auf Staatskosten, und ohne diese Reisen und die Gefängnisse würden wir nicht so ruhig hier sitzen, wie wir es heut' thun!«
    »Trotzdem dürfen Sie mit Ihren Gefängnissen nicht den Anspruch erheben, Sie beschützten die Gesellschaft, denn die Menschen, die Sie ins Gefängnis sperren, kommen früher oder später wieder heraus, und das System, dem Sie sie unterwerfen, hat nur den Zweck, sie noch gefährlicher zu machen.«
    »Sie wollen sagen, unser Strafsystem bedürfe der Vervollkommnung?«
    »Aber durchaus nicht! Das wäre unnütze Mühe. Mit der Vervollkommnung der Gefängnisse würde man noch mehr Geld verlieren, als man heut' mit der Verbreitung des öffentlichen Unterrichts verliert, und auch das müßten wieder die armen Leute bezahlen.«
    »Ja, was soll man denn aber thun? Alle Welt umbringen? Oder wie es kürzlich ein bedeutender Staatsmann vorgeschlagen hat, den Verbrechern die Augen ausstechen?« fragte Ignaz Nikophorowitsch mit erzwungenem Lächeln.
    »Das wäre grausam, aber es hätte wenigstens einen Sinn! während das, was man jetzt thut, auch grausam ist, aber keinen Sinn hat.«
    »Aber ich gehöre ja selbst diesen Gerichten an, von denen Sie so sprechen,« sagte Ignaz Nikophorowitsch erblassend.
    »Das ist Ihre Sache! Ich beschränke mich darauf, das zu erwähnen, was ich nicht verstehe.«
    »Es giebt viele Dinge, die Sie nicht verstehen,« rief Ignaz Nikophorowitsch mit zitternder Stimme.
    »Ich habe im Schwurgerichtshof gesehen, wie ein Staatsanwalt einen unglücklichen Burschen verurteilen ließ, der bei jedem nur einigermaßen anständigen Manne nichts als Mitleid hervorgerufen hätte.«
    »Ich würde den Beruf, den ich ausübe, gewiß nicht ausüben, wäre ich von seiner Gesetzlichkeit nicht überzeugt,« sagte Ignaz Nikophorowitsch und erhob sich.
    Nechludoff glaubte unter dem Lorgnon seines Schwagers etwas leuchten zu sehen und dachte: »Mein Gott, ich hoffe, es sind keine Thränen.« Es waren aber thatsächlich Thränen, Thränen des Aergers und der Demütigung. Ignaz Nikophorowitsch näherte sich dem Fenster, zog sein Taschentuch heraus, trocknete sein Lorgnon ab und wischte sich gleichzeitig die Augen. Dann setzte er sich auf den Divan, steckte sich eine Cigarre an und sagte nichts mehr.
    Nechludoff fühlte sich bei dem Gedanken, seinen Schwager und seine Schwester derartig verletzt zu haben, gleichzeitig tieftraurig und beschämt, um so mehr, da er am nächsten Tage abreiste und wohl wußte, er würde sie wiederzusehen keine Gelegenheit mehr haben. Nach einigen alltäglichen Worten nahm er von ihnen Abschied und kehrte nach Hause zurück.
    »Was ich ihm gesagt, ist vielleicht wahr,« sagte er sich. Doch auf jeden Fall hätte ich nicht so zu ihm sprechen sollen. Die Veränderung, die in mir vorgegangen, ist wirklich noch nicht sehr tief gedrungen, daß ich mich so habe aufregen lassen, Ignaz Nikophorowitsch so tief demütigen und meiner armen Natascha so wehe habe thun können!«

Neuntes Kapitel
    Der Zug der Gefangenen sollte am nächsten Tage um drei Uhr vom Bahnhof

Weitere Kostenlose Bücher