Auferstehung 3. Band (German Edition)
abfahren, und Nechludoff nahm sich vor, schon gegen Mittag am Gefängnisthor zu sein, um ihn herauskommen zu sehen und bis zur Eisenbahn zu begleiten. Als er vor dem Schlafengehen seine Papiere ordnete, fiel ihm sein Tagebuch in die Hände, und er konnte sich nicht enthalten, die letzten Sätze noch einmal durchzulesen. Als er nach Petersburg abreiste, hatte er geschrieben: »Katuscha will mein Opfer nicht und beharrt auf dem ihrigen. Sie entzückt mich durch diese innere Veränderung, die sich – ich fürchte mich, es zu glauben – in ihr zu vollziehen scheint. Ich fürchte mich, es zu glauben, doch habe ich die Empfindung ihrer Auferstehung.« Darunter hatte Nechludoff das nächste Mal geschrieben: »Heut' habe ich einen großen Schlag zu erleiden gehabt; ich habe erfahren, Katuscha habe sich im Hospital schlecht betragen. Auf der Stelle empfand ich einen furchtbaren Schmerz; nie hätte ich gedacht, die Sache würde mich so tief schmerzen. Ich habe die Unglückliche mit Haß und Ekel behandelt, doch dann habe ich mich erinnert, wie oft ich selbst, wenn auch nur in Gedanken, die Sünde begangen, deretwegen ich sie haßte, und von diesem Augenblick an habe ich mich selbst gehaßt; sie hat mir leid gethan, und ich habe ein wohliges Gefühl empfunden.« Nechludoff ergriff die Feder und fügte bei dem Datum des Tages hinzu: »Ich habe Katuscha heut' morgen gesehen, und wieder war ich aus Selbstsucht hart und boshaft gegen sie. Auch zu Natascha war ich boshaft und habe zu ihrem Manne gesprochen, wie ich in keinem Falle hätte sprechen sollen. Das alles lastet mir wie ein Centnergewicht auf der Seele. Doch was thun? Morgen beginnt für mich ein neues Leben. Leb' wohl, mein altes Leben, für immer!«
Als er am nächsten Morgen erwachte, war sein erstes Gefühl ein lebhaftes Bedauern über sein Benehmen seinem Schwager gegenüber. »Ich kann die Dinge unmöglich so belassen,« sagte er sich; »ich will zu ihm gehen und ihn um Entschuldigung bitten.« Doch bald bemerkte er, daß er dazu keine Zeit haben würde, wenn er dem Abmarsch des Zuges beiwohnen wollte. Nachdem er schleunigst seine Sachen gepackt und sie von dem Hotelhausknecht nach dem Bahnhof hatte bringen lassen, sprang er in einen Fiaker, um nach dem Gefängnis zu fahren.
Man befand sich in der stärkster Julihitze. Das Pflaster, die Steine der Häuser, das Eisen auf den Dächern, die während der glühenden Nacht nicht hatten erkalten können, vermischten ihre Strahlen mit dem Glanz der Sonne und machten die Luft zum Atmen fast gänzlich ungeeignet. Kein Windhauch, nur auf Augenblicke plötzliche Stöße, die den Leuten Staubwolken in die Augen bliesen. Die meisten Straßen waren leer, hier und da streiften einzelne Passanten an den Häusern entlang und suchten hier ein bißchen Schatten. Trotzdem sah Nechludoff in einer Straße eine Gruppe von Steinpflasterern mitten in der Sonne auf dem Damme sitzen und Pflastersteine in den warmen Sand einlegen.
Als Nechludoff am Gefängnis anlangte, fand er das Thor noch geschlossen. Im Innern war man seit vier Uhr morgens damit beschäftigt, die zur Abreise bestimmten Verschickten zu ordnen und Revue passieren zu lassen. Es waren sechshundertdreiundzwanzig Männer und vierundsechzig Weiber, die, zu zwei und zwei geordnet, nicht im Schatten, sondern gerade in der Sonne standen. Vor der Thür stand wie immer eine Schildwache mit dem Gewehr im Arm. Auf dem kleinen Platze sah Nechludoff zwanzig Wagen, die die Sachen der Gefangenen fortschaffen und auch einige unpäßliche oder kranke Gefangene zum Bahnhof bringen sollten. Er sah ferner noch in einem Winkel eine Gruppe armer Leute, Verwandte und Freunde, die auf den Abmarsch der Gefangenen warteten, um sie noch ein letztes Mal zu sehen und ihnen, wenn möglich, Lebensmittel oder Geld zu verabreichen.
Nechludoff gesellte sich dieser Gruppe zu und blieb fast eine Stunde vor der Thür stehen. Endlich hörte er im Innern des Gefängnisses das Gerassel von Ketten, mit lauter Stimme erteilte Befehle, Husten und das verworrene Gemurmel einer auf dem Platze stampfenden Menschenmenge. Das dauerte fünf Minuten, in denen sich die Aufseher fortwährend an der Thür zeigten, um dann wieder hineinzugehen. Dann öffneten sich plötzlich die beiden Thorflügel, das Klirren der Ketten wurde stärker und ein Detachement von Soldaten in blauen Uniformen bildete einen breiten Halbkreis auf den beiden Seiten des Thores. Dann kamen die Verschickten auf einen neuen Befehl zu zwei und zwei heraus.
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