Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
andern sehen,« rief Marie Pawlowna, die alle ihre Gefährten duzte.
    »Warum sollte ich denn etwas sehen, was nicht vorhanden ist?«
    »Wie kann man einem Menschen die Bewunderung versagen, der sich, freiwillig einem gräßlichen Tode aussetzt?«
    »Ich bin der Meinung,« erklärte Nowodworoff in trockenem Tone, »wenn wir unser Werk vollbringen wollen, so muß die erste Bedingung die sein, daß wir nicht träumen und die Dinge stets so ansehen, wie sie sind.«
    Markel schloß das Buch, das er bei der Lampe las, trat ebenfalls näher und hörte eifrig alle Worte des Mannes mit an, den er sich zum Meister und Vorbild genommen hatte. Nowodworoff aber fuhr in feierlichem und entschlossenem Tone, als wenn er einen Vortrag hielte, fort: »Unsere Pflicht besteht darin, alles für das Volk zu thun, aber nichts von ihm zu erwarten. Das Volk muß der Gegenstand unserer Bemühungen sein, doch es darf nicht mit uns mitarbeiten, wenigstens nicht solange es in seinem augenblicklichen Zustande des Stumpfsinnes verharrt. Nichts wäre illusorischer, als vom Volke die geringste Mitwirkung zu erhoffen, bis zu dem Tage, da sich seine geistige Entwicklung vollziehen wird, die Entwicklung, zu der wir es vorbereiten.«
    »Was für eine Entwicklung?« fragte Krülzoff, sich von seinem Lager erhebend. »Wir behaupten immer, wir kämpfen gegen den Despotismus; doch ist eine solche Handlungsweise nicht ein ebenso empörender Despotismus wie der, den wir vernichten wollen?«
    »Wo siehst du denn da Despotismus?« versetzte Nowodworoff mit derselben Ruhe. »Ich, sage nur, daß ich den Weg kenne, den das Volk zu seiner Entwicklung verfolgen muß, und daß ich ihm diesen Weg zeigen kann.«
    »Aber wer erlaubt dir denn zu behaupten, daß dieser Weg, den du ihm zeigst, der gute ist? Hat man nicht im Namen derselben Prinzipien die Inquisition eingeführt? Hat nicht im Namen derselben Prinzipien die französische Revolution ihre Verbrechen begangen? Auch sie glaubte, in der Wissenschaft den einzigen Weg gefunden zu haben, dem man folgen mußte.«
    »Die Thatsache, daß andere sich getäuscht, beweist noch nicht, daß ich mich auch täuschen muß. Und dann darf man auch keine Analogie aufstellen zwischen den Albernheiten der Ideologen und den positiven Grundlagen der volkswirtschaftlichen Wissenschaft.«
    Die starke Stimme Nowodworoffs durchdrang den ganzen Saal. Niemand wagte, ihn zu unterbrechen.
    »Weshalb zankt ihr euch immer?« sagte Marie Pawlowna, als er ausgesprochen hatte.
    »Und wie ist Ihre Ansicht darüber?« fragte Nechludoff das junge Mädchen.
    »Ich bin der Ansicht, Anatole hat recht, und wir haben nicht die Berechtigung, unsere Ideen dem Volk aufzudrängen.«
    »Das ist eine merkwürdige Art und Weise, unsere Rolle aufzufassen,« sagte Nowodworoff, zündete sich eine Cigarette an und entfernte sich mit ärgerlicher Miene.
    »Es geht über meine Kräfte, ich kann nicht mit ihm sprechen, ohne außer mir zu geraten,« flüsterte Krülzoff Nechludoff ins Ohr, und Nechludoff konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß auch er dasselbe Gefühl empfand.

Zwölftes Kapitel
    Trotz der Hochachtung, die alle seine Gefährten für Nowodworoff hegten, trotz seines Wissens und der hohen Meinung, die er von sich selbst hatte, betrachtete Nechludoff gerade ihn als den Typus jener Revolutionäre, die, weil sie naturgemäß unter dem Durchschnittsniveau stehen, in dem Milieu, in dem sie sich befanden, nur Unheil anrichten konnten. Er erkannte an, daß Nowodworoff vom geistigen Standpunkte aus besser begabt war, als der Durchschnitt der Revolutionäre; doch er fühlte, daß seine Eitelkeit und seine Selbstsucht, die sich unter der Einwirkung seiner Lebensverhältnisse hochgradig entwickelt, seine Intelligenz seit langer Zeit lahm gelegt hatten.
    Die ganze revolutionäre Thätigkeit Nowodworoffs erschien Nechludoff, obwohl er sie stets mit beredten Worten zu rechtfertigen wußte und ihnen die wunderbarsten Motive verlieh, einzig und allein als der Ausfluß des Ehrgeizes, der nur auf dem Wunsche, zu herrschen und sich eine Machtstellung zu verschaffen, beruhte. Da er eine außerordentliche Fähigkeit besaß, sich die Gedanken anderer anzueignen und sie klar zum Ausdruck zu bringen, so hatte sich Nowodworoff zuerst in den Kreisen, in denen diese Fähigkeit ganz besonders geschätzt wird, mühelos die Bewunderung aller erworben. Auf dem Gymnasium, dann auf der Universität hatten seine Lehrer und seine Mitschüler seiner Ueberlegenheit Achtung gezollt,

Weitere Kostenlose Bücher