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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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in dem für die politischen Gefangenen reservierten Zimmer die reinste Luft geatmet.
    Schließlich bahnte er sich doch einen Weg bis zum äußersten Ende des Korridors, indem er vorsichtig weiter ging, um die Schläfer nicht zu treten, die den Weg versperrten. Drei Gefangene, die zweifellos in dem Korridor selbst keinen Platz hatten finden können, hatten sich vor dem Eingang unter dem Unrateimer niedergelegt. Der eine von ihnen war ein Idiot, dem Nechludoff schon oft begegnet war; ein anderer war ein kleiner Junge von zehn Jahren; er schlief, wie die Kinder schlafen, die beiden Hände flach unter die Wange gelegt, während die verpestete Flüssigkeit des mit Exkrementen angefüllten Unrateimers langsam auf ihn herniedersickerte.
    Im Hofe des Rastgebäudes blieb Nechludoff stehen, holte tief Atem und sog mit Behagen die eisige Nachtluft ein.

Sechzehntes Kapitel
    An dem eben noch so dunklen Himmel waren jetzt die Sterne aufgegangen, die Schmutzlachen waren an vielen Stellen gefroren, und so hatte Nechludoff keine allzu große Mühe, seine Herberge wieder zu erreichen. Er klopfte ans Fenster; der breitschultrige Bursche öffnete ihm und ließ ihn herein.
    Rechts im Korridor hörte Nechludoff das Schnarchen der Kutscher in einem dunklen Zimmer; vor sich im Hofe hörte er das beständige, regelmäßige Geräusch einer Schar Hafer fressender Pferde. Links sah er die Thür des Gastzimmers geöffnet, in welchem vor dem Heiligenbild eine Lampe brannte, und ein seltsamer Duft entströmte diesem Saale, ein Branntweingeruch, in den sich noch andere Gerüche mischten.
    Nechludoff ging in sein Zimmer hinauf, zog seinen Mantel aus, und streckte sich auf einem Divan aus. Ganz in seinen Reiseplaid eingewickelt, durchlebte er die verschiedenen Schauspiele noch einmal, denen er eben beigewohnt. Besonders aber sah er mit ganz außergewöhnlicher Deutlichkeit den kleinen Jungen wieder vor sich, der, den Kopf auf die Hände gelegt, neben dem Nachteimer schlief, der auf ihn herabsickerte.
    Die Unterredung, die er eben mit Simonson und Katuscha gehabt, hatte ihn tief erschüttert! er fühlte, ein Ereignis hätte sich in seinem Leben vollzogen, ein unvorhergesehenes, äußerst wichtiges Ereignis. Doch er fühlte auch, dieses neue Ereignis wäre zu ernst und unvorhergesehen, als daß er noch kalten Blutes daran denken konnte. Mit allen Mitteln bemühte er sich, nicht daran zu denken und verjagte sofort alle Erinnerungen, die sich auf seine eigene Lage und die des jungen Weibes beziehen konnten. Mit ebenso großer Deutlichkeit stellte er sich den Schlummer der Gefangenen in dem stinkenden Korridor vor, vor allem aber dachte er an den unschuldigen kleinen Jungen, der zwischen den beiden Sträflingen ausgestreckt lag.
     
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    Es ist zweierlei: zu wissen, daß irgendwo in weiter Ferne einzelne Leute andere quälen, ihnen allerlei Leiden und Demütigungen auferlegen; und drei Monate lang den Schauspielen dieser Qualen beizuwohnen und täglich zu sehen, wie andern diese Leiden und Demütigungen auferlegt wurden. Darüber wurde sich Nechludoff jetzt klar. Zwanzigmal hatte er sich im Laufe dieser drei Monate gefragt: »Bin ich toll und sehe ich Dinge, die andere nicht sehen, oder sind die andern, die die Dinge dulden und selbst vollbringen, toll?« Die andern Menschen aber duldeten diese Dinge, die Nechludoff in Erstaunen setzten, nicht nur, sondern hielten sie sogar für so wichtig und notwendig, daß er wirklich nicht annehmen konnte, sie wären alle toll.
    Andererseits aber konnte er auch nicht annehmen, daß er selbst toll war, denn seine Gedanken erschienen ihm vollständig klar und vernünftig. Deshalb wußte er immer noch nicht, für welche Lösung er sich entschließen sollte. Wenigstens aber stellte er sich die allgemeine Bedeutung dessen, was er in diesen drei Monaten gesehen, deutlicher vor, und zwar unter folgender Form:
    Er hatte zuerst die Empfindung, daß das Beamtentum und die Verwaltung von allen in Freiheit lebenden Menschen die eifrigsten, die gewecktesten, mit einem Wort, die lebenskräftigsten, aber auch die am wenigsten klugen und am wenigsten verschlagenen aussuchte; diese Menschen wurden nun, ohne schuldiger und gefährlicher als die in Freiheit gebliebenen zu sein, in Gefängnisse, Rastgebäude, Zuchthäuser eingeschlossen, wo man sie Jahre hindurch im Müßiggange, fern von der Natur, der Familie, der Arbeit, das heißt, fern von den Bedingungen des normalen Lebens, erhielt.
    In zweiter Reihe hatte Nechludoff die

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