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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Empfindung, daß alle diese Menschen in den Gefängnissen, Rastgebäuden u. s. w. einer ganzen Reihe von Demütigungen – Ketten an den Füßen, Handfesseln, rasierter Kopf, Gefängniskleidung – unterworfen waren, die keinen andern Wert hatten, als daß sie die Hauptbestandteile des moralischen Lebens in ihnen zerstörten, das heißt, das Bestreben nach Achtung der andern, die Scham und das Gefühl der menschlichen Würde. Drittens hatte Nechludoff die Empfindung, daß man diese Leute, indem man sie einer beständigen Krankheits- und Todesgefahr preisgab, in die Geistesverfassung versetzte, in der der beste und moralischste Mensch aus Selbsterhaltungstrieb geneigt ist, die grausamsten und unmoralischsten Handlungen zu begehen und gutzuheißen.
    Viertens hatte Nechludoff die Empfindung, daß man diese Leute, indem man sie zwang, Tag und Nacht die Gesellschaft von durch und durch verdorbenen Wesen – Mörder, Diebe, Brandstifter – über sich ergehen zu lassen, der Epidemie dieser Verderbnis förmlich in die Arme trieb, Nechludoff sagte sich ferner, daß man durch die Behandlung, die man diesen Menschen zu teil werden ließ, indem man ihnen gegenüber alle möglichen ungeheuerlichen Maßregeln zur Anwendung brachte, indem man die Eltern von den Kindern und die Männer von den Frauen trennte; indem man auf die Denunciationen einen Preis setzte, diesen Menschen zu beweisen suchte, daß alle Formen der Gewaltthat, der Grausamkeit, der Bestialität nicht allein nicht verboten, sondern vom Gesetze sogar empfohlen wurden, wenn sie einen Vorteil einbrachten; daraus ging hervor, daß alle diese Dinge ganz besonders Leuten erlaubt waren, die man ihrer Freiheit beraubt hatte, und die sich in der schlimmsten Not befanden.
    »Man möchte wahrhaftig glauben,« dachte Nechludoff, alle diese Maßregeln wären absichtlich erfunden worden, um unter den lebenskräftigsten Wesen des Volkes die Verderbnis und das Laster in der sichersten Weise zu verbreiten. Alljährlich werden so Tausende von menschlichen Wesen zu Grunde gerichtet, ihrer menschlichen Gefühle beraubt und zur Ausübung der ungeheuerlichsten Handlungen gezwungen; wenn man sie aber vollständig dem Laster in die Arme geführt, läßt man sie frei, damit sie die bösen Keime, die man in sie gesäet, im ganzen Volke verbreiten können.«
    Schon in dem Gefängnis, in welchem er Katuscha wiedergefunden, und später auf dem ganzen Zuge des Gefangenentransportes in Perm, in Jekaterinenburg, in Tomsk, auf allen Ruhestationen hatte Nechludoff die Wirkungen dieser allgemeinen nationalen Demoralisation sich vollziehen sehen. Er hatte gesehen, wie einfache, von den traditionellen moralischen Grundlagen des Bauern und Christen durchdrungene Durchschnittsnaturen diese Prinzipien nach und nach abgelegt, um sich dafür andere Prinzipien zu eigen zu machen, die hauptsächlich in der Zulassung jeder Gewaltthat und Unehre gipfelten. Diese Naturen waren angesichts der den Gefangenen zu teil gewordenen Behandlung so weit gekommen, daß sie alle Prinzipien der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die ihre Religion sie gelehrt hatte, als Lügen ansahen, und daraus hatten sie die Schlußfolgerung gezogen, daß auch sie selbst diesen Prinzipien nicht mehr zu folgen brauchten.
    Bei einer großen Zahl Gefangener des Zuges hatte Nechludoff Beispiele dieser Sittenverderbnis beobachtet; bei Fedoroff, bei Makar und sogar bei Taraß, der nach zweimonatlichem Zusammenleben mit den Sträflingen viele ihrer Gewohnheiten angenommen und sich fast so fühlte und ausdrückte, wie sie. Nechludoff hatte nämlich gehört, wie er mit Bewunderung von dem alten Sträfling sprach, der sich rühmte, seinen Fluchtgefährten ermordet und aufgegessen zu haben. Und er dachte daran, daß der russische Bauer unter der Einwirkung solcher Behandlung der Gefangenen in einigen Monaten in denselben Zustand der Sittenverderbnis geriet, in welchem sich die »Intellektuellen«, die die Doktrinen Nietzsches priesen und predigten, nach Jahrhunderten moralischer Fäulnis befanden. Nechludoff las in den Büchern, daß alle diese Maßregeln, deren Folgen er sah, ihre Rechtfertigung darin fanden, daß man gewisse gefährliche Glieder der menschlichen Gesellschaft ausrotten oder auf dieselben abschreckend wirken mußte. Auf die Wirklichkeit aber hatte das alles keinerlei Bezug, denn anstatt die gefährlichen Glieder aus der Gesellschaft auszurotten, verbreitete man die Sittenverderbnis nur noch mehr. Anstatt auf diese Glieder

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