Auferstehung 4. Band (German Edition)
abschreckend zu wirken, ermutigte man sie nur, indem man ihnen das Beispiel der Grausamkeit und Unmoral gab und ihnen außerdem ein Leben der Faulheit und Ausschweifung sicherte, das ihnen so weit gefiel, daß eine Menge von Landstreichern es als eine Gunst betrachtete, ins Gefängnis geworfen zu werden. Anstatt diese gefährlichen Mitglieder zu bessern, impfte man ihnen nur systematisch alle Laster ein.
»Aber warum thut man denn das alles?« fragte sich Nechludoff und fand noch immer keine Antwort. Am meisten aber wunderte er sich, daß dies alles nicht nur vorübergehend, infolge eines Mißverständnisses, sondern fortgesetzt und wohlüberlegt seit langen Jahrhunderten geschah, nur mit dem einzigen Unterschiede, daß man den Gefangenen früher die Nasenlöcher aufriß und sie auf Flöße setzte, während man ihnen jetzt Handschellen anlegte, ihnen die Augen mit Fäusten ausschlug und sie in Dampfschiffen reisen ließ.
Nechludoff fand auch Schriftsteller, die ihm sagten, die Maßregeln, die ihn empörten, kämen nur von den ungenügenden Gefängnissen und einer mangelhaften Organisation, die sicherlich bald verbessert werden würde. Doch auch diese Antwort befriedigte ihn absolut nicht; denn er fühlte nur zu deutlich, der Uebelstand, der ihn empörte, hinge nicht allein von der ungenügenden Zahl der Gefängnisse oder von dem oder jenem Organisationsfehler ab. Die Erfahrung bewies ihm, daß dieses Uebel von Jahr zu Jahr trotz der sogenannten Fortschritte der Zivilisation stärker wurde. Er wußte, daß die Gefangenentransporte vor fünfzig Jahren nicht in demselben Maße das Schauspiel der Verrohung und Sittenverderbnis aufwiesen, trotzdem man sie damals nicht in Dampfschiffen und Eisenbahnen durch Rußland beförderte. Und er konnte nicht ohne ein Gemisch von Ekel und Unruhe eine Beschreibung dieser Mustergefängnisse lesen, die von den Soziologen erträumt wurden, und in denen die Verurteilten durch Elektrizität Nahrung, Licht und Heizung erhielten und auch elektrisch gepeitscht und hingerichtet wurden.
Und mit Entrüstung dachte Nechludoff daran, daß Richter und Beamte alljährlich große, dem Volke abgepreßte Summen erhoben, nur um aus Büchern, die eben solche Richter und Beamte wie sie geschrieben, die Mittel herauszulesen, gewisse Menschen nach fernen Orten zu spedieren, um auf einige Zeit von ihnen befreit zu sein, und zwar so, daß diese Menschen sicherlich moralisch, wenn nicht gar körperlich, umkamen. Und in dem Maße, wie Nechludoff die Gefängnisse und Etappen immer genauer studierte, erkannte er, daß alle unter den Gefangenen verbreiteten Laster: die Trunksucht, das Spiel, die Gewaltthätigkeit, die Schamlosigkeit, daß alle diese Laster keineswegs die Kundgebung eines sogenannten »Verbrechertypus«, wie ihn im Dienste der Behörde stehende Gelehrte erfunden, war, sondern daß sie die direkte Folge der ungeheuerlichen Verirrungen waren, auf Grund deren sich gewisse Leute das Recht angeeignet hatten, über andere Menschen zu Gericht zu sitzen und sie zu bestrafen. Nechludoff begriff, daß der Kannibalismus des alten Sträflings seinen Ursprung nicht in der Galeere, auch nicht in der Wüste, wohl aber in den Ministerien, den Kommissionen und den Kanzleien gehabt hatte. Er begriff ferner, daß das, was im Bagno vorging, nur die Schlußfolgerung dessen war, was sich in diesen höheren Sphären abspielte, und daß Leute, wie sein Schwager zum Beispiel, nichts mit der Gerechtigkeit und dem Wohle der Nation zu thun hatten, der zu dienen sie sich rühmten, sondern daß ihr einziges Bestreben darauf gerichtet war, die Rubelstücke sich anzueignen, die man ihnen für die Ausführung dieser niedrigen Arbeiten bezahlte, die soviel Leiden und Sittenverderbnis zur Folge hatten.
»Sollte das alles nicht wirklich nur die Folge eines Mißverständnisses sein? Könnte man es nicht so einrichten, daß alle diese Beamten ihr Gehalt weiter bezögen, ja, daß sie sogar eine Extraprämie bekämen, unter der Bedingung, daß sie von nun an auf diese schadenbringenden Arbeiten verzichteten, die auszuführen sie sich verpflichtet glauben, um ihr Gehalt zu bekommen?«
Was alles dachte Nechludoff, und unter diesen Gedanken überfiel ihn endlich bei Tagesanbruch der Schlummer, trotz der Wanzen, die, seit er sich niedergelegt hatte, wie Ameisen in einer Grube um ihn herumliefen.
Siebzehntes Kapitel
Als Nechludoff am nächsten Morgen gegen neun Uhr erwachte, übergab ihm die wohlbeleibte Wirtin ein Couvert, das einer
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