Aufgeflogen - Roman
herunter.
»Isabel, bitte, lass uns reden.«
Isabel möchte nicht reden. Nicht mit Christoph, nicht mit ihrer Mutter, schon gar nicht mit dem Fremden.
»Isabel …«, sagt dieser und versucht ein Lächeln.
Sie würdigt ihn keines Blickes, ebenso wenig wie Christoph, der an der Treppe steht. Isabel sieht noch, dass er den Mund aufmacht, sich einmischen will, aber sie lässt ihm keine Chance.
Sie rennt zur Tür, reißt sie auf und läuft hinaus.
»Isabel!«
Sie hört Christoph und ihre Mutter schreien. Aber sie weiß, dass die beiden sie nicht mehr sehen können. Die Nacht und der Wald haben sie verschluckt. Irgendwie wird sie auf die Hauptstraße kommen. Irgendwie nach Berlin. Ein paar Euro hat sie noch.
Sie fühlt sich von allen betrogen. Von Christoph, weil er diesen Mann mitgebracht hat. Von ihrer Mutter, weil sie mit diesem Typ spricht.
Sie braucht ihn nicht, sie will ihn nicht brauchen. Denn er hat sie nicht gewollt, sie kann nicht glauben, dass er ihnen jetzt helfen wird.
Vielleicht hat Christoph recht, denkt sie. Wenn der Tod des Hausmeisters geklärt ist, dann wird die Polizei auch die beiden illegalen Frauen vergessen, die imZusammenhang mit diesem Verbrechen gesucht wurden. Sie werden zwar nicht mehr in die Wrangelstraße zurückkehren können, aber ein neues Leben in einem anderen Berliner Kiez, das ist möglich. Sie hatten schon so viele Leben, wieso sollen sie nicht noch einmal von vorne anfangen?
Es gibt also noch eine Chance – auch ohne ihren Vater: Sie muss den Mörder Krögers finden, dann kehrt Ruhe ein. Wenn sie nur wüsste, wo sie suchen, wie sie vorgehen soll. Am besten redet sie mit Esra und Mehmet. Sie ist sicher, dass die beiden nicht die Polizei rufen werden.
Sie muss nach Kreuzberg, Esra morgen von der Schule abholen. Oder Mehmet vor seiner Arbeitsstelle abfangen. Sie weiß nicht, wie hier draußen die Busse fahren. Im Notfall geht sie eben zu Fuß bis Köpenick. Sie hat ja die ganze Nacht.
Wenn Mehmet oder Esra ihr helfen, das wäre zumindest ein Anfang. Aber sie weiß auch, dass sie vorsichtig sein muss. Nicht nur die Polizei, auch Christoph wird sie suchen. Er möchte sie bestimmt wieder ins Waldhaus zurückbringen. Er wird sicher nicht akzeptieren, dass sie sich an Mehmet wendet. Er war immer auf ihn eifersüchtig. Es stimmt, Mehmet mochte sie von Anfang an. Seit sie in dieses Haus gezogen sind. Und er hat sie immer vor Christoph gewarnt: »Er ist nicht für dich da, wenn du ihn brauchst.« Nun wird sich zeigen, ob Mehmet für sie da ist.
Sie überlegt, während sie durch den Wald läuft. Christoph wollte mit Leuten aus ihrem Haus reden, um etwas über Krögers Tod zu erfahren. Hat er das überhaupt getan? Oder hat er aufgegeben, nachdem ihn die Witwe dort erwischt hat? Hätte ihm überhaupt jemand etwas gesagt? Er ist doch ein Fremder in ihrer Welt. Es ist gut, dass sie die Dinge selbst in die Hand nimmt.
10. Kapitel
Natürlich ist er ihr nachgelaufen. Hinaus in die Finsternis. Er ruft nach ihr, er sucht sie, er hört es hier und dort knacken, aber er sieht nichts. Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Finsternis. Seine Ohren sind unsicher, ob die Geräusche aus der einen oder anderen Ecke gekommen sind. Wohin ist sie gelaufen? Wenn er doch nur seinen Roller da hätte! Aber er ist mit Bruckner im Wagen gekommen.
Er überlegt zu lange. Er weiß es. Läuft planlos draußen herum. Ruft, hört aber dann auf, um die Nachbarn der umliegenden Ferienhäuser nicht aufmerksam zu machen. Bruckner und Eugenia suchen mit ihm. Der Arzt holt eine Taschenlampe aus dem Wagen, leuchtet umher. Aber es hilft alles nichts. Isabel ist verschwunden.
Christoph kommt sich vor wie ein Idiot. Er wird wütend auf Bruckner, und er weiß zugleich, dass er ungerecht ist. Er hat den Arzt angeschleppt, er wollte unbedingt, dass sich der Mann um Eugenia und ihre gemeinsame Tochter kümmert. Ihm war klar, dass Isabel nicht begeistert sein würde. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so heftig reagiert.
Er kriegt das Bild nicht aus dem Kopf. Die Enttäuschung und Verzweiflung in ihrem Blick, als sie begreift, dass er Bruckner mit in die Waldhütte gebracht hat. Ihre Wut, die sie hinausschreit. Ihre Entschlossenheit zu verschwinden. Weg war sie.
»Hol mir meine Tochter zurück.« Eugenia klingt verzweifelt. Bruckner führt sie zurück in die Hütte. Christoph nimmt diese Aufforderung wörtlich. Er möchte Eugenia so nicht unter die Augen treten. Und er muss mit Isabel
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