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Aufgeflogen - Roman

Aufgeflogen - Roman

Titel: Aufgeflogen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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reden. Sie soll verstehen, warum er das getan hat. Sie soll ihm verzeihen, dass er gegen ihren Willen gehandelt hat, in guter Absicht, in der Hoffnung, ihnen helfen zu können. Sie soll sich nicht noch mehr in Gefahr bringen.
    Die Tür zur Hütte steht offen, Bruckner und Eugenia rechnen offenbar damit, dass auch er aufgibt, dass er zurückkommt, mit ihnen beratschlagt, wie sie weiter vorgehen sollen. Aber er denkt nicht daran. Eine Sekunde zögert er noch, aber dann handelt er. Steigt in Bruckners Auto. Er hat gesehen, dass der Arzt den Schlüssel stecken gelassen hat   – wer soll hier schon ein Auto klauen, mitten in der Wildnis. Er lässt den Wagen an und fährt los. Natürlich sieht er Bruckner noch aus der Hütte rennen, schreien, ihm nachlaufen. Egal. Er muss Isabel finden. Wenn sie den Weg zur Hauptstraße nimmt, dann hat er sie bald eingeholt.
    Er kennt nur das Auto der Fahrschule und denKleinwagen seiner Mutter. Er darf offiziell gar nicht ohne Begleitung eines Erwachsenen fahren. Wen kümmert es?
    Jetzt lenkt er einen großen BMW durch den Wald, jedes Schlagloch nimmt er mit, er starrt auf den schmalen Weg, aber auch in den Wald rechts und links, irgendwo hier muss Isabel sein. Doch er entdeckt sie nicht.
    Als er die Straße erreicht, hält er kurz an und denkt nach. Wo will sie hin? Vermutlich nach Kreuzberg, in die Wrangelstraße. Dort sind ihre Freunde und Bekannten, dort könnte sie am ehesten Hilfe bekommen. Hilfe, die sie von ihm vielleicht nicht mehr annehmen wird. Er hat die Lage falsch eingeschätzt. Er hat Isabel falsch eingeschätzt.
    Langsam fährt er weiter, die Landstraße entlang, nach Köpenick. Dort stellt er den Wagen ab. Steigt in die S-Bahn .
    Am liebsten würde er nach Hause fahren, ein paar Stunden schlafen. Doch er fürchtet, dass seine Eltern ihn dann nicht mehr gehen lassen. Er aber will Isabel helfen, auch wenn sie seine Hilfe offenbar nicht mehr will.

11.   Kapitel
    Ich kannte mich aus in Berlin und wusste doch so wenig. Denn ich habe es gesehen und doch nicht gesehen. Es ist nicht Iran oder Irak, es ist nicht Burkina Faso oder Äthiopien, es ist nicht Chile oder Haiti, es ist einfach Luftlinie ein paar Kilometer von unserer Wohnung. Eine andere Welt. Sich in Kreuzberg mit der Clique die Nächte um die Ohren schlagen, das war mal ganz lustig oder spannend. Aber hinter die Fassaden haben wir nie geschaut. Schon gar nicht in die Hinterhöfe und Souterrain-Wohnungen, in denen Menschen wie Eugenia und Isabel lebten.
     
    Ein altes Haus mit bröckelndem Putz.
    Eine Haustür, die man nicht oder nicht mehr gut verschließen kann. Warum auch? Hier gab es nicht viel zu stehlen.
    Ein Lichtschalter, den man nicht berühren sollte, weil die Leitung offen lag, weil man sich einen Stromschlag holen konnte. Mäuse, die schnell weghuschten, wenn doch einmal jemand Licht machen sollte. Der kalte, unebene Steinfußboden, die ausgetretenen Holztreppen mit dem wackligen Geländer.
    Die Briefkästen weitgehend ohne Namen, manche verbeult oder aufgebrochen. Einige voller Werbematerial, andere zugeklebt, sodass keiner mehr etwas hineinwerfen konnte.
    Ein Fahrrad an der Wand, das niemand mitnehmen würde, so alt war es. Auch der Kinderwagen ein Modell, das längst nicht mehr geläufig war.
    Gerüche, bekannte und unbekannte. Gewürze wie Knoblauch und Kreuzkümmel, aber auch Staub, der mich niesen ließ. Dann beißender Uringeruch. Ich atmete flacher.
    Kindergeschrei von oben.
    Erwachsene, die sich anbrüllten.
    Musik, die ich niemals freiwillig hören würde. Hier Schlager, dort orientalische Klänge.
     
    Als ich das erste Mal hier gewesen war, da hatte ich das alles nicht so wahrgenommen. Damals wollte ich mehr über Isabel erfahren, über ihre Familie. Die Lebensumstände waren zweitrangig.
    Ich war nicht oft in diesem Haus, aber bei den nächsten Besuchen fielen mir immer andere und neue Dinge auf. Immer mehr wurde mir bewusst, dass dies eine fremde Welt war. Ich habe sie gesehen und doch nicht gesehen.
     
    »Komm doch mit«, hatte Eugenia gesagt, als ein Fest bei der Familie von Esra und Mehmet stattfand. Isabelsah nicht so aus, als wollte sie mich wirklich dabei haben. Aber ich hoffte auf eine Gelegenheit, ihre Welt besser kennenzulernen, sie zu verstehen, so sehr Teil ihres Lebens zu werden, wie sie inzwischen Teil meines Lebens geworden war.
    Esra war so alt wie Isabel. Ihre halblangen Haare waren schwarz, ihre dunklen Augen waren anders dunkel als die von Isabel, sie war größer und

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