Aufruf zur Revolte
nur anlässlich von Fußballweltmeisterschaften als Maskottchen einer Nation der Dichter und Denker anführen, aber niemals lesen, sind wir dieser Kultur auch tätig treu.
Was für einen Kulturverrat begeht dagegen unsere Bildungspolitik? Welches Massaker an den Geisteswissenschaften unsere Universitäten erlebt haben, spottet jeder Beschreibung. Und zu den beklagenswertesten Aspekten der Verarmung in Deutschland gehört die musische und sprachliche Verarmung.
So leistet sich dieses immer noch stinkend reiche Deutschland ein Schulwesen, in dem selbst an den Gymnasien von einem Musikunterricht kaum noch die Rede sein kann. Der Deutschunterricht verkommt zunehmend zu einer Art literarischem Bewerbungstraining. Das ist nun, weiß Gott, kein Angriff auf Musik- und Deutschlehrer, die unsere Empörung über die Trockenlegung ihrer Fächer übrigens teilen. Und auch und gerade die Schülerinnen und Schüler der Haupt- und Realschulen haben ein Recht auf musische und literarische Bildung.
Dass diese Kompetenzen im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen »wirtschaftlich nichts bringen«, ist nebenbei bemerkt ein lächerlich engstirniger, veralteter und ganz einfach falscher Ansatz. Aber vielleicht wird die Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Literatur und der ihrem Wesen nach weltbürgerlichen Musik auch darum behindert, weil Literatur und Musik Tore zum Bewusstsein eines Lebens ohne nationale und kulturelle Beschränktheiten sind? Wer Literatur und Musik fördert, fördert das kritische Weltbürgertum. Doch nicht jeder scheint die Gefahren einer einseitigen Schulbindung zu sehen – eine schädliche, gemeingefährliche und nicht zu tolerierende Einstellung.
Wo das Kapital der Konzerne weltweit agiert, ist eine Bürgergesellschaft, die immer noch im »Wir« und »die Anderen« von Völkern und Nationen denkt, von vorneherein chancenlos. Und wer sich selbst im streikenden Griechen, dem schwulen Russen und in den Kindern asiatischer Textilfabriken nicht erkennt, hat sich selbst und seine eigenen Interessen nicht erkannt.
Solidarität! Der Schritt zu einer globalen Demokratie kann nur eingeleitet werden, wenn wir uns von nationalen Identitäten lösen und Homophobie, Frauenunterdrückung und alle anderen Diskriminierungsformen ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, die Menschen die Art und Weise ihres Menschseins diktieren oder absprechen wollen. Nur so wird genug Einigkeit entstehen, um dem drohenden sozialen Apartheidstaat ein massenhaftes Aufbegehren entgegenzusetzen.
Ist ein solcher Abschied von den ideologischen Dämonen der Vergangenheit möglich? Ist die Menschheit reif für ein Ende der Rassismen unterschiedlichster Ausprägung, obwohl die Meinungsarrangeure des Status Quo mit ihren endlosen Sarrazinaden engagiert dagegenhalten?
Es wird quer durch alle Denkrichtungen und Lager anerkannt, dass wir uns als Weltgesellschaft inmitten einer gewaltigen Transformationsbewegung befinden. Die schöpferischen Potentiale dieser Umwälzung werden, je nachdem, wo man bewusstseinsmäßig eingeparkt hat, sehr unterschiedlich charakterisiert: als dritte industrielle Revolution, als Aufbruch in die Wissensgesellschaft, als Globalisierung der Produktion, als Übergang von der analogen zur digitalen Welt, als Geburtswehen einer globalen Bürgergesellschaft, als Abschied vom kopernikanischen Paradigma oder Beginn des Wassermannzeitalters.
Die Empfindung, dass unter unseren Füßen die Plattentektonik der Weltgeschichte machtvoll in Bewegung geraten ist, ist all diesen Versuchen, die Veränderung positiv zu begreifen, ebenso gemein, wie den zahlreichen Deutungsversuchen aus einer apokalyptischen Erwartungshaltung heraus.
Nun sind wir uns beide, wie wir ausführlich offenbart haben, der Fehlentwicklungen, der gewaltigen Gefahren und Katastrophenszenarien sehr bewusst, die im derzeitigen Weltzustand als Zukunftsoptionen bereitliegen. Den Apokalyptikern wollen wir dennoch mit Egon Friedell entgegnen, dass sich die in der Menschheitsgeschichte periodisch auftretenden Phasen vermeintlicher Weltuntergänge mitunter als Beginn eines Weltaufgangs erwiesen haben.
Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten auch sehr viel Gutes und Neues gewachsen neben all den Schrecklichkeiten.
Viele Menschen haben den Schritt bereits vollzogen, das neue Leben nicht nur zu fordern, sondern selber zu beginnen. Es gibt, auch in Deutschland, eine beachtliche Menge unterschiedlichster Projekte,
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