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Aufruhr in Oxford

Aufruhr in Oxford

Titel: Aufruhr in Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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abschweifenden Gedanken zurück und hörte gerade noch, wie sie Miss de Vine vorgestellt wurde. Auf den ersten Blick sah sie, daß sie hier eine Gelehrte völlig anderer Art vor sich hatte als zum Beispiel Miss Lydgate, und erst recht anderer Art als das, was aus Harriet Vane je werden könnte. Diese Frau war eine Kämpferin, o ja; aber eine, für die der Hof des Shrewsbury College gerade die richtige Arena war, in der sie sich zu Hause fühlte: eine Kämpferin, die keine persönlichen Loyalitäten kannte und deren Treue nur den Fakten galt. Eine Miss Lydgate konnte die Welt, von der sie nicht berührt war, mit echter, warmer Liebe umfangen; diese Frau aber, die von der Welt unendlich viel mehr verstand, würde über diese ein gerechtes Urteil sprechen und sie aus ihrem Weg räumen, wenn sie sich durch sie behindert fühlte. Das schmale, interessierte Gesicht mit den großen, grauen, tief und funkelnd hinter dicken Brillengläsern liegenden Augen war für Eindrücke durchaus empfänglich; aber hinter dieser Empfänglichkeit lag ein Verstand so hart und unverrückbar wie Granit. Die Leitung eines Mädchencollege mußte ihr eine sehr unangenehme Aufgabe gewesen sein, fand Harriet, denn sie sah aus, als ob das Wort «Kompromiß» aus ihrem Wörterbuch gestrichen wäre; und dabei war doch alle Staatskunst Kompromiß. Sicher tolerierte sie keinerlei Wankelmütigkeit im Ziel und keine Unklarheit im Urteil. Wenn je etwas zwischen sie und den Dienst an der Wahrheit träte, würde sie ohne Gewissensbisse und ohne Mitleid darüber hinwegschreiten – und wenn es ihr eigener Ruf wäre. Eine furchtbare Frau, wenn sie ein ins Auge gefaßtes Ziel verfolgte – um so furchtbarer ob der trügerischen Mäßigung und Bescheidenheit, die sie an den Tag legte, wenn es sich um einen Gegenstand handelte, den sie nicht beherrschte. Als sie hinzutraten, sagte sie gerade zu Miss Gubbins:
    «Ich stimme Ihnen völlig zu, daß man es als Historiker mit dem Detail sehr genau nehmen muß; solange man aber nicht alle beteiligten Charaktere und Umstände in Betracht zieht, läßt man Fakten außer acht. Die Proportionen und Beziehungen der Dinge zueinander sind ebenso Fakten wie die Dinge selbst; und wenn man die nicht recht versteht, wird das Gesamtbild arg verfälscht.»
    An dieser Stelle erblickte Miss de Vine, gerade als Miss Gubbins mit störrischem Mauleselblick zum Widerspruch ansetzen wollte, die Englisch-Tutorin und entschuldigte sich. Miss Gubbins blieb nur noch, sich zurückzuziehen; Harriet sah mit Bedauern, daß ihr Haar unordentlich und ihre Haut ungepflegt war und eine große weiße Sicherheitsnadel ihren Überwurf am Kleid festhielt.
    «Meine Güte!» sagte Miss de Vine. «Wer ist nur diese absolut phantasielose Frau? Sie scheint sich ja furchtbar über meine Besprechung von Mr. Winterlakes Buch über Essex zu ärgern. Offenbar meint sie, ich hätte den armen Mann in Stücke reißen müssen, nur weil er sich an einer Stelle, wo er sich zufällig mit der Familie Bacon befaßt, mal um ein paar unbedeutende Monate geirrt hat. Daß es sich bei dem Buch um die bis dato aufschlußreichste und wissenschaftlichste Abhandlung über die Wechselwirkungen zwischen zwei äußerst rätselhaften Charakteren handelt, scheint ihr gar nichts zu bedeuten.»
    «Die Geschichte der Familie Bacon ist ihr Arbeitsgebiet», sagte Miss Lydgate, «darum nimmt sie das sicherlich sehr ernst.»
    «Es ist ein schwerer Fehler, das eigene Thema so überproportional vor seinem Hintergrund zu sehen. Natürlich muß der Irrtum berichtigt werden; ich habe ihn sogar berichtigt – in einem privaten Brief an den Autor, was bei solch unbedeutenden Richtigstellungen der beste Weg ist. Aber ich bin ganz sicher, daß der Mann den Schlüssel zu den Beziehungen zwischen diesen beiden Männern gefunden hat, und damit hat er eine wirklich bedeutende Entdeckung gemacht.»
    «Nun», sagte Miss Lydgate, indem sie ihre kräftigen Zähne zu einem herzlichen Lächeln entblößte, «Sie scheinen es Miss Gubbins jedenfalls kräftig gegeben zu haben. Nun habe ich hier jemanden mitgebracht, den Sie gern einmal kennenlernen wollten, wie ich weiß. Das ist Miss Harriet Vane – auch eine Künstlerin in der Wiedergabe von Details.»
    «Miss Vane?» Die Historikerin näherte ihre funkelnden, kurzsichtigen Augen Harriet, und ihre Miene hellte sich auf. «Das ist ja wunderbar. Lassen Sie mich Ihnen bitte sagen, wie sehr Ihr letztes Buch mir gefallen hat. Ich fand, es war das beste, das Sie je

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