Aufruhr in Oxford
Herz sei der Treppe nicht gewachsen. Auch einige Studentinnen hatten Einladungen bekommen, aber es waren keine dabei, die Harriet kannte. Sie machte sich darum rechtzeitig vor Sonnenaufgang auf den Weg, nachdem sie sich zuvor noch mit Miss Edwards verabredet hatte, hinterher ein Ruderboot zu nehmen und zur Isis hinunterzurudern, um nach dieser Lungenkur auf dem Fluß zu frühstücken.
Der Chor hatte seine Hymne gesungen. Die Sonne war aufgegangen, ziemlich rot und zornig, und zauberte einen rosigen Glanz auf die Dächer und Türme der erwachenden Stadt. Harriet beugte sich über die Brüstung und sah hinunter auf die berückende Schönheit der geschwungenen High Street, die bisher noch kaum gestört war vom Gebrüll des Verkehrs. Unter ihren Füßen begann der Turm mit der Bewegung der Glocken zu schwingen. Die kleine Gruppe von Fahrradfahrern und Fußgängern unten begann sich aufzulösen und auseinanderzugehen. Mr. Jenkyn kam zu ihr, sagte ein paar nette Worte und erklärte, daß er rasch fort müsse, denn er sei mit einem Freund zum Baden am Parson’s Pleasure verabredet; sie brauche sich aber nicht zu beeilen – ob sie wohl allein die Treppe hinuntergehen könne?
Harriet bedankte sich lachend, und er verabschiedete sich von ihr an der Treppe. Dann ging sie auf die Ostseite des Turms. Dort lagen der Fluß und die Magdalen Bridge mit ihrem Pulk von Puntkähnen und Paddelbooten. Mitten dazwischen erkannte sie Miss Edwards’ stämmige Gestalt in einem leuchtend orangefarbenen Pullover. Es war herrlich, so über der Welt zu stehen, ein Meer von Lauten unter sich und einen Ozean von Luft darüber, die ganze Menschheit zusammengeschrumpft auf die Größe eines Ameisenhaufens. Gewiß, ein paar Leute befanden sich außer ihr noch auf dem Turm, Gefährten in einer luftigen Eremitage. Auch sie verzaubert von der Schönheit – Großer Gott! Was hatte denn dieses Mädchen vor?
Harriet machte einen Satz zu dem Mädchen hin, das soeben ein Knie auf das Mauerwerk geschoben hatte und sich zwischen zwei Zinnen hochziehen wollte.
«He!» rief sie. «Das dürfen Sie nicht. Das ist gefährlich!»
Das Mädchen, ein mageres, blondes, verängstigt blickendes Kind noch, ließ sofort von seinem Tun ab.
«Ich wollte nur mal hinübersehen.»
«Das war aber sehr dumm von Ihnen. Womöglich wäre Ihnen schwindlig geworden. Gehen Sie lieber mit mir hinunter. Es wäre für das Magdalen College sehr unangenehm, wenn da jemand hinunterfällt. Womöglich dürfte es dann keine Leute mehr herauflassen.»
«Es tut mir leid. Daran hatte ich nicht gedacht.»
«Das sollten Sie aber. Ist noch jemand bei Ihnen?»
«Nein.»
«Ich gehe jetzt hinunter. Sie kommen am besten mit.»
«Gut.»
Harriet geleitete das Mädchen die dunkle Wendeltreppe hinunter. Sie hatte keinen Beweis, daß es etwas anderes gewesen war als unbedachter Vorwitz, aber sie machte sich Gedanken. Das Mädchen sprach mit einem leicht gewöhnlichen Akzent, und Harriet hätte sie als Verkäuferin eingestuft, wenn sie nicht gewußt hätte, daß die Karten zum Turm eigentlich nur an Universitätsangehörige und ihre Freunde ausgegeben wurden. Vielleicht eine Studentin vom Lande, mit einem staatlichen Stipendium. Wahrscheinlich maß sie dem Vorfall zuviel Bedeutung bei.
Sie kamen soeben an der Glockenstube vorbei, und das eherne Dröhnen war laut und aufdringlich. Es erinnerte sie an eine Geschichte, die Peter Wimsey ihr einmal erzählt hatte, vor Jahren schon, als nur sein verbissener Wille, zu reden und zu reden, es zu verhindern vermocht hatte, daß ein unglücklich verlaufener Ausflug im Streit endete. Es war etwas von einer Leiche in einer Glockenstube gewesen, von einer Überschwemmung und den großen Glocken, die den Alarm über drei Grafschaften ausgerufen hatten.
Das Lärmen der Glocken erstarb hinter ihnen, als sie vorbei waren, und mit ihm die Erinnerung. Aber sie hatte beim schwierigen Abstieg ganz kurz innegehalten, und das Mädchen, wer sie auch sein mochte, hatte dadurch einen Vorsprung vor ihr gewonnen. Als sie unten ankam und ins helle Tageslicht hinaustrat, sah sie die schlanke Gestalt nur noch durch den Gang zum Hof verschwinden. Sie wußte nicht recht, ob sie ihr folgen sollte oder nicht. So folgte sie ihr in einiger Entfernung, sah, wie sie sich die High Street hinaufwandte, und plötzlich wäre sie fast in den Armen Mr. Pomfrets gelandet, der in einem sehr schlampigen grauen Anzug, ein Handtuch über dem Arm, vom Queen’s College herkam.
«Hallo!»
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