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Aufruhr in Oxford

Aufruhr in Oxford

Titel: Aufruhr in Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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war sie wütend, weil ein geschäftliches Unternehmen sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern hatte. Aber es war auch unmöglich, länger zu warten. Die Situation wurde langsam zum Alptraum. Über Nacht waren Gesichter verschlagen und verzerrt geworden, Blicke angstvoll; das unschuldigste Wort war mit Argwohn befrachtet. Jeden Moment konnte ein neuer Anschlag den Damm zum Brechen bringen und alles vernichten.
    Sie hatte plötzlich Angst vor all diesen Frauen: horti conclusi, fontes signati, sie waren eingesperrt hinter Mauern und mit Siegeln verschlossen, die sie aussperrten. Wie sie so dasaß im hellen Licht des Morgens und auf das prosaische Telefon vor sich auf dem Tisch starrte, verstand sie die alte Angst vor Artemis, der Mondgöttin und jungfräulichen Jägerin, deren Pfeile Pest und Tod brachten.
    Mit einemmal wurde ihr das Phantastische ihrer Idee bewußt, Hilfe ausgerechnet bei einer andern Sippe alter Jungfern zu suchen; selbst wenn es ihr noch gelang, Miss Climpson zu erreichen, wie sollte sie diesem vertrockneten ältlichen Fräulein die Sache erklären? Schon beim Anblick mancher dieser Schmähbriefe würde ihr wahrscheinlich schlecht, und das ganze Theater würde sowieso ihr Begriffsvermögen übersteigen. Damit tat Harriet der Dame allerdings bitter unrecht; Miss Climpson hatte in den sechzig oder mehr Jahren, die sie in Pensionen verlebt hatte, schon allerlei Absonderlichkeiten gesehen und war so frei von Verdrängungen und Komplexen, wie ein Mensch nur sein konnte. Dagegen zehrte die Atmosphäre im Shrewsbury allerdings an Harriets eigenen Nerven. Was sie brauchte, war jemand, bei dem sie kein Blatt vor den Mund nehmen mußte, jemand, der über menschliche Absonderlichkeiten jeder Erscheinungsform weder Erstaunen empfinden noch zeigen würde, jemand, den sie kannte und dem sie vertrauen konnte.
    Da gab es viele Leute in London – Männer wie Frauen –, für die sexuelle Abnormitäten ein Alltagsthema waren; nur war den meisten von ihnen kaum zu trauen. Sie kultivierten ihre Normalität, bis sie ihnen am ganzen Körper schwoll wie die Muskelpakete an einem Berufskraftprotz, was dann gar nicht mehr normal aussah. Vor ihrer strotzenden seelischen Gesundheit zuckten unausgeglichene gewöhnliche Sterbliche erschrocken zurück. Sie ging einige der Namen im Geiste durch, fand aber keinen geeigneten darunter.
    «Ich weiß einfach nicht», sagte sie zum Telefon, «ob ich einen Arzt oder einen Detektiv brauche. Aber jemanden brauche ich.»
    Sie wünschte sich – und nicht zum erstenmal –, sie könnte sich mit Peter Wimsey in Verbindung setzen. Es war zwar ein Fall, den er schicklicherweise nicht gut selbst lösen konnte, aber wahrscheinlich wußte er, an wen man sich da am besten wandte. Er zumindest würde sich über nichts wundern, über nichts schockiert sein; dazu war er viel zu welterfahren. Und man konnte sich vollkommen auf ihn verlassen. Aber er war nicht da. Er war ihr im selben Moment aus den Augen entschwunden, als sie von der Shrewsbury-Affäre zum erstenmal hörte; als ob es Absicht gewesen wäre. Schon hatte sie wie Lord Saint-George das Gefühl, daß Peter eigentlich kein Recht hatte, einfach zu verschwinden, wenn man ihn brauchte. Daß sie sich fünf Jahre lang energisch gesträubt hatte, sich Peter Wimsey noch weiter zu verpflichten, tat jetzt nichts zur Sache; gern hätte sie sich dem Teufel selbst verpflichtet, wenn sie nur sicher gewesen wäre, daß der Fürst der Finsternis ein Gentleman von Peters Machart war. Aber war Peter denn so unerreichbar wie Luzifer?
    War er’s? Vor ihr stand griffbereit das Telefon. Sie konnte ebensogut in Rom anrufen wie in London – es war nur ein bißchen teurer. Wahrscheinlich war es nur die finanzielle Schüchternheit dessen, der sich jeden Penny durch Arbeit verdienen mußte, die ihr ein Ferngespräch über einen Kontinent hinweg soviel gewichtiger erscheinen ließ als ein Stadtgespräch. Jedenfalls konnte es nicht schaden, Peters letzten Brief zu holen und nach der Nummer seines Hotels zu sehen. Sie ging rasch hinaus und lief Miss de Vine in die Arme.
    «Oh», sagte die Professorin. «Sie suche ich gerade. Ich dachte, ich sollte Ihnen das lieber zeigen.»
    Sie reichte ihr ein Blatt Papier; der Anblick der ausgeschnittenen Druckbuchstaben war ihr abscheulich vertraut:
     
    BALD BIST DU DRAN
     
    «Ist doch nett, wenn man gewarnt wird», sagte Harriet mit einer Leichtherzigkeit, die sie nicht empfand. «Wo? Wann? Wie?»
    «Es ist aus einem

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