Aufruhr in Oxford
wie doch noch immer Spuren dieses alten Vorurteils vorhanden sind. Erst gestern zeigte mir der Vizekanzler einen außerordentlich vulgären anonymen Brief, den er an diesem Morgen erhalten hatte …»
Der Lärm im Speisesaal legte sich langsam; es war wie eine plötzliche Windstille mitten im Sturm.
«… enthielt die abwegigsten Beschuldigungen – eigenartigerweise gegen Ihr Kollegium im besonderen. Sogar den Vorwurf des Mordes. Der Vizekanzler …»
Harriet bekam die nächsten paar Worte nicht mit; sie sah nur, wie an der Hohen Tafel plötzlich alle Köpfe, wie an Fäden gezogen, zu Dr. Threep herumflogen, der jetzt in der relativen Stille weiterdröhnte:
«… auf Papier geklebt – ziemlich raffiniert. Ich habe gesagt: ‹Mein lieber Vizekanzler, ich glaube nicht, daß da die Polizei viel ausrichten kann; wahrscheinlich ist dies das Werk eines harmlosen Irren.› Aber ist es nicht sonderbar, daß solch abwegige Vorstellungen überhaupt existieren – noch existieren – bis zum heutigen Tag?»
«Wirklich sehr sonderbar», sagte die Rektorin mit unbewegter Miene.
«Ich habe also von einer Meldung an die Polizei abgeraten – fürs erste wenigstens. Aber ich habe gesagt, ich würde Ihnen die Sache unterbreiten, da ja das Shrewsbury ausdrücklich erwähnt wurde. Natürlich beuge ich mich Ihrer Meinung.»
Die Professorinnen saßen wie erstarrt; und gerade in dem Moment, als Dr. Threep sich der Entscheidung der Rektorin beugte, knallte sein Hemd so laut, daß es vom einen Ende des Tisches zum andern zu hören war, und die große Peinlichkeit ging in der kleineren unter. Miss Chilperic brach plötzlich in ein hohes, schrilles Lachen aus.
Wie die Mahlzeit endete, wußte Harriet hinterher nicht mehr. Dr. Threep ging zum Kaffee in die Wohnung der Rektorin, und Harriet fand sich im Zimmer der Dekanin wieder, hilflos hin- und hergerissen zwischen Heiterkeit und Schrecken.
«Es sieht wirklich sehr ernst aus», sagte Miss Martin.
«Scheußlich. ‹Ich habe zum Vizekanzler gesagt –›»
«Plopp!»
«Nein, nun mal ernst, was sollen wir da unternehmen?»
«Ich beuge mich Ihrer Meinung.»
«Plopp!»
«Ich weiß gar nicht, wie ein Hemd so etwas macht. Sie vielleicht?»
«Keine Ahnung. Und ich wollte heute abend so gescheit sein. Da kommt nun ein Mann zu uns, habe ich mir gesagt; jetzt werde ich gut beobachten, wie alle darauf reagieren – und dann machte es einfach ‹Plopp›.»
«Es bringt nichts, die Reaktionen auf Dr. Threep zu beobachten», sagte die Dekanin. «An ihn sind hier alle gewöhnt. Außerdem hat er sowieso ein halbes Dutzend Kinder. Aber es kann noch sehr unangenehm werden, wenn der Vizekanzler –»
«O ja, sehr.»
Der Samstag dämmerte trüb und drohend.
«Ich glaube, es gibt ein Gewitter», sagte Miss Allison.
«Noch ein bißchen früh im Jahr dafür», meinte Miss Hillyard.
«O nein», erwiderte Mrs. Goodwin, «ich habe schon viele Gewitter im Mai erlebt.»
«Jedenfalls ist irgend etwas Elektrisches in der Atmosphäre», fand Miss Lydgate.
«Ganz Ihrer Meinung», sagte Miss Barton.
Harriet hatte schlecht geschlafen. Eigentlich war sie sogar die halbe Nacht im College herumgewandert – ein Opfer eingebildeter Alarmzeichen. Als sie endlich zu Bett gegangen war, hatte sie diesen widerwärtigen Traum geträumt, in dem sie einen Zug erreichen wollte, daran aber durch eine Unmenge Gepäck gehindert wurde, das sie vergebens in nebelhaften und widerspenstigen Koffern unterzubringen versuchte. Am Morgen kämpfte sie verzweifelt mit den Fahnen von Miss Lydgates Kapitel über Gerard Manly Hopkins und fand sie so widerspenstig wie die Koffer und fast so nebelhaft. Zwischen mühsamen Versuchen, des Dichters eigenes System von Akzentverschiebung, Kontrapunkt und logaödischem Rhythmus mit seinen fortlaufenden Versen und freien Silben von Miss Lydgates rivalisierendem Skandiersystem (das fünf verschiedene Alphabete und eine Reihe von Schnörkeln zu ihrer Verdeutlichung erforderte) zu trennen, fragte sie sich, ob es Freddy Arbuthnot wohl gelungen sei, zu tun, was er ihr verspochen hatte, und ob sie es dabei belassen oder sonst noch etwas unternehmen solle – und wenn ja, was? Am Nachmittag hielt sie es nicht länger aus und brach unter drohendem Himmel auf, um einen Spaziergang durch Oxford zu unternehmen, nach Möglichkeit bis zur völligen Erschöpfung. Sie begann in der High Street, wo sie einen Augenblick vor dem Schaufenster eines Antiquitätenladens stehenblieb; dort stand ein
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