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Aufruhr in Oxford

Aufruhr in Oxford

Titel: Aufruhr in Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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erschreckender Klarheit. Er wollte nicht vergessen, nicht Ruhe haben, von nichts verschont bleiben, nicht auf der Stelle verweilen. Eine gewisse zentrale Stabilität war alles, was er wollte, und anscheinend war er bereit, zu nehmen, was kam, solange es ihn nur in dieser prekären Balance halten konnte. Wenn er wirklich so empfand, war natürlich alles, was er bisher in bezug auf sie gesagt und getan hatte, in sich vollkommen logisch. «Mein Gleichgewicht ist nur ein Gleichgewicht einander widerstrebender Kräfte.» … «Was macht es, wenn es teuflisch weh tut, solange es ein gutes Buch wird?» … «Wozu sollen unsere Fehler gut sein, wenn wir nichts damit anfangen?» …
    «Sich als Judas zu fühlen gehört zum Beruf.» … «Das erste, was ein Prinzip tut: Es bringt jemanden um.» … Wenn er so dachte, war es nur lächerlich, ihn freundlich zur Seite schieben zu wollen, damit seine Schienbeine geschont wurden.
    Er hatte sich ja abseits zu stellen versucht. «Zwanzig Jahre lang bin ich vor mir selbst davongelaufen, und es hat mir nichts genützt.» Er glaubte nicht mehr, daß der Äthiopier sich die Haut eines Rhinozeros zulegen konnte. Selbst in den rund fünf Jahren, die Harriet ihn nun kannte, hatte sie ihn seinen Schutzpanzer Schicht und Schicht abstreifen sehen, bis kaum noch etwas übrig war als die nackte Wahrheit.
    Dafür wollte er sie also haben. Aus irgendeinem Grunde, der ihr und wahrscheinlich auch ihm selbst dunkel war, hatte sie die Macht, ihn aus diesem Schutzpanzer herauszuzwingen. Vielleicht war er ihr, als er sie in einer Falle widriger Umstände zappeln sah, darum zu Hilfe geeilt. Oder das Schauspiel ihres Kampfes hatte ihn gewarnt, was aus ihm werden konnte, wenn er in seiner selbstgebauten Falle blieb.
    Und doch schien er bereit zu sein, sie hinter die Schutzwehren des Geistes zurückfliehen zu lassen, sofern – ja, er blieb auch da konsequent – sofern ihr die Flucht aus eigener Kraft durch ihre Arbeit gelang. Genaugenommen bot er ihr die Wahl zwischen ihm und Wilfrid. Er sah also ein, daß ihr noch ein Ausweg blieb, den er selbst nicht hatte.
    Darum war er wohl auch so überempfindlich, was seine eigene Rolle in der Komödie betraf. Seine Bedürfnisse standen (aus seiner Sicht) zwischen ihr und ihrem legitimen Ausweg, brachten sie in Schwierigkeiten, von denen er ihr nichts abnehmen konnte, weil sie ihm beharrlich das Recht verweigert hatte, sie mit ihr zu teilen. Er besaß nichts von der unbekümmerten Bereitschaft seines Neffen, zu nehmen, was er bekam. So ein leichtsinniger, selbstsüchtiger Lümmel! dachte Harriet (und meinte den Vicomte). Konnte er seinen Onkel denn nicht in Frieden lassen?
    Es war übrigens durchaus denkbar, daß Peter schlicht und einfach (und ganz menschlich) eifersüchtig auf seinen Neffen war – natürlich nicht auf sein Verhältnis zu Harriet (das wäre ja dumm und lächerlich gewesen), vielmehr auf den sorglosen jugendlichen Egoismus, der dieses Verhältnis möglich machte.
    Und schließlich hatte Peter ja recht gehabt. Lord Saint-Georges Unverschämtheit war für andere nur dahingehend zu deuten, daß ihre Beziehungen zu Peter von einer Art waren, die solches erklärte. Zweifellos war dadurch eine peinliche Situation entstanden. Es sagte sich leicht: «Ach ja, ich kannte ihn flüchtig und habe ihn einmal besucht, als er nach seinem Autounfall im Krankenhaus lag.» Es störte sie ja nicht einmal so sehr, wenn Miss Hillyard dachte, bei einer Frau von ihrem zweifelhaften Ruf könne man sich jede Freiheit herausnehmen. Aber die Folgerungen im Hinblick auf Peter störten sie durchaus. Daß er nach fünf Jahren geduldiger Freundschaft nur das Recht erworben haben sollte, zuschauen zu dürfen, wie sein Neffe in aller Öffentlichkeit seine Possen mit ihr trieb, machte ihn geradewegs zum Narren. Jede andere Folgerung wäre unwahr gewesen. Sie hatte ihn genau in diese Narrenrolle hineingebracht, und nun mußte sie zugeben, daß dies gar nicht schön von ihr gewesen war.
    So dachte sie beim Zubettgehen mehr an einen anderen Menschen als an sich selbst – womit bewiesen wäre, daß auch die unbedeutendere Poesie ihren praktischen Nutzen haben kann.
     
    Am folgenden Abend ereignete sich etwas Merkwürdiges, ja Unheimliches.
    Sie war bei ihrer Freundin im Somerville College zu einem Essen eingeladen gewesen, bei dem sie einen berühmten Schriftsteller kennenlernen sollte, von dem sie sich, da sein Spezialgebiet die mittlere viktorianische Periode war, nützliche

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