Aufruhr in Oxford
gezweifelt, daß es für sie das Richtige war. Das Schreiben hatte sie bezwungen, ohne daß sie etwas davon gewußt oder gemerkt hatte, und das war der Beweis für seine wahrhaft bezwingende Macht.
Sie ging noch ein paar Minuten im Hof auf und ab, da sie zu rastlos zum Zubettgehen war. Dabei fiel ihr Blick auf ein Blatt Papier, das ungehörig über den gepflegten Rasen flatterte. Automatisch hob sie es auf, und als sie sah, daß es nicht leer war, nahm sie es mit in den Burleigh-Bau, um zu sehen, was es war. Es war ein normales Blatt Schreibpapier und trug nichts weiter als eine kindische Bleistiftzeichnung von ungelenker Hand. Kein schönes Bild, o nein – und alles andere, als was man auf dem Innenhof eines College zu finden erwarten würde. Es war häßlich und sadistisch. Es zeigte eine nackte Gestalt von übertriebenen weiblichen Umrissen, die eine Person unbestimmbaren Geschlechts in akademischer Tracht brutal züchtigte. Dahinter steckte kein gesunder Geist; es war das häßliche, schmutzige Geschmiere eines Irren. Harriet sah die Zeichnung eine Weile voll Ekel an, während ihr eine Reihe von Fragen durch den Kopf ging. Dann nahm sie das Blatt mit hinauf zur nächsten Toilette, warf es hinein und spülte. So ging man mit derlei Dingen um, und fertig. Und doch hätte sie etwas darum gegeben, wenn sie die Zeichnung nie gesehen hätte.
3. Kapitel
Diejenigen handeln am besten, die, wenn sie um die Liebe nicht herumkönnen, ihr nur Sonderquartier einräumen und sie gänzlich von ihren ernsthaften Angelegenheiten und ihrer Lebenshaltung trennen; denn wenn die Liebe sich irgendwie mit geschäftlichen Dingen befaßt, bringt sie der Menschen Glücksumstände in Verwirrung und hindert sie daran, ihren eigenen Zielen treu zu bleiben.
FRANCIS BACON
Der Sonntag war, wie die Professorinnen stets erklärten, jedesmal der schönste Tag der Jahresfeier. Das offizielle Abendessen und die Ansprachen waren überstanden. Die in Oxford wohnenden ehemaligen Studentinnen sowie die Vielbeschäftigten, die nur eine Nacht erübrigen konnten, hatten alle schon das Feld geräumt. Man fand sich in Grüppchen zusammen und konnte in Muße mit Freundinnen reden, ohne gleich wieder von einer Horde Langweiler überfallen und abgeschleppt zu werden.
Harriet machte ihren Höflichkeitsbesuch bei der Rektorin, die einen kleinen Empfang mit Sherry und Keksen gab, und begab sich dann zu Miss Lydgate im Neuen Hof. Das Zimmer der Englisch-Tutorin war mit Korrekturfahnen ihres gerade in Arbeit befindlichen Werks über Prosodische Elemente in der englischen Dichtung von Beowulf bis Bridges übersät. Miss Lydgate hatte soeben eine völlig neue Prosodie-Theone vervollkommnet (das heißt, sie arbeitete an deren Vervollkommnung, denn das Endstadium der Vollkommenheit erreicht ein gelehrtes Werk bekanntlich nie), wozu ein völlig neuartiges und kompliziertes Notationssystem mit zwölf verschiedenen Schriftarten erforderlich war, und da Miss Lydgates Handschrift schwer lesbar und ihre Erfahrung im Umgang mit Setzern und Druckern begrenzt war, existierten zu diesem Zeitpunkt bereits fünf aufeinanderfolgende Fahnenkorrekturen, jeweils in verschiedenen Stadien der Fertigstellung, sowie zwei Bögen Umbruch und ein Anhang in Maschinenschrift, während die wichtige Einleitung, die den Schlüssel zu der ganzen Theorie enthielt, erst noch geschrieben werden mußte. Immer wenn ein Abschnitt soweit war, daß er umbrochen werden konnte, setzte sich in Miss Lydgate die unerschütterliche Überzeugung fest, daß diese oder jene Argumentationskette von einem Kapitel in ein anderes überführt werden mußte, was natürlich jedesmal einen kostspieligen neuen Umbruch sowie die Ausmerzung der entsprechenden Teile in den fünf revidierten Fassungen bedeutete; und wenn Miss Lydgate an den entsprechend notwendig gewordenen Querverweisen arbeitete, fanden die Studentinnen und Kolleginnen sie meist eingesponnen in eine Art papierenen Kokon, hilflos in dem ganzen Durcheinander ihren Füllfederhalter suchend.
«Ich glaube», antwortete Miss Lydgate verlegen auf Harriets höfliche Erkundigungen nach dem neuen magnum opus, «ich verstehe furchtbar wenig von der praktischen Seite der Buchherstellung. Ich finde das alles maßlos verwirrend und kann mich den Setzern so schlecht verständlich machen. Es wird mir eine große Hilfe sein, wenn Miss de Vine erst hier ist; sie ist so ordentlich. Von ihren Manuskripten kann man wirklich lernen, und dabei ist ihr Arbeitsgebiet
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