Aufruhr in Oxford
zu diktieren, als wären sie entfliehende Stücke von einem selbst, keine eigenständigen Lebewesen. Selbst wenn ihr Sinn nach Motorrädern stand … Um Annie brauchte sie sich nicht zu sorgen. Aber wie stand es um Miss de Vine, die in seliger Unwissenheit aus London angereist kam? Erschrocken sah Harriet, daß es schon fast Viertel vor zehn war. Der Zug mußte eingelaufen sein. Hatte die Rektorin daran gedacht, Miss de Vine zu warnen? Man durfte sie nicht in diesem ebenerdigen Zimmer schlafen lassen, ohne sie vorzuwarnen. Aber die Rektorin vergaß ja nie etwas.
Trotzdem fühlte Harriet sich nicht wohl in ihrer Haut. Von ihrem Fenster aus konnte sie nicht sehen, ob irgendwo im Bibliotheksflügel Licht brannte. Sie schloß ihre Tür auf und ging hinaus (ja, das Fenster im Flur war offen; niemand anders als der Wind hatte an ihrer Tür gerüttelt). Ein paar undeutliche Gestalten bewegten sich noch am anderen Ende des Hofes, als sie am Tennisplatz vorbeiging. Im Bibliotheksflügel waren alle Erdgeschoßfenster dunkel bis auf den trüben Schimmer des Korridorlichts. Miss Barton war jedenfalls nicht in ihrem Zimmer; und Miss de Vine war auch noch nicht zurück. Oder – doch, sie mußte da sein, denn in ihrem Wohnzimmer war der Vorhang vors Fenster gezogen, wenn auch dahinter noch kein Licht schien.
Harriet ging ins Haus. Die Tür zu Miss Burrows Wohnung stand offen, und der Vorraum war leer. Miss de Vines Tür war zu. Sie klopfte, aber es kam keine Antwort- und es kam ihr mit einemmal sonderbar vor, daß die Vorhänge zugezogen waren und kein Licht brannte. Sie öffnete die Tür und betätigte den Lichtschalter im Vorraum. Nichts geschah. Mit wachsender Unruhe ging sie weiter zur Wohnzimmertür und öffnete sie. Und da, als ihre Hand gerade nach dem Schalter fuhr, fühlte sie sich mit festem Griff bei der Kehle gepackt.
Sie hatte zwei Vorteile auf ihrer Seite: Teils war sie vorbereitet, und dann hatte die Angreiferin nicht mit dem Hundehalsband gerechnet. Sie fühlte und hörte das schnelle Keuchen, als kräftige, grausame Finger mit dem steifen Leder kämpften. Als diese Finger neuen Halt suchten, hatte sie kurz Zeit, sich zu erinnern, was sie gelernt hatte – die Handgelenke zu packen und auseinanderzureißen. Doch als ihre Füße nach den Füßen der anderen tasteten, glitt sie mit ihrem hohen Absatz auf dem Parkettboden aus – und sie fiel – beide fielen, und sie zuunterst; der Sturz schien Jahre zu dauern; und die ganze Zeit hörte sie eine Flut heiserer, unflätiger Schmähungen in ihren Ohren. Dann wurde unter Blitzen und Donnergetöse die ganze Welt mit einem Schlage dunkel.
Gesichter – undeutlich auf brausenden Wellen des Schmerzes durcheinanderschwimmende Gesichter – größer werdend und ängstlich sich wieder verkleinernd – dann zu einem einzigen verschmelzend – Miss Hillyards Gesicht, riesengroß und dem ihren sehr nah. Dann eine Stimme, qualvoll laut, unverständlich dröhnend wie ein Nebelhorn. Dann plötzlich das Zimmer, ganz deutlich wie die beleuchtete Bühne eines Theaters, mit Miss de Vine marmorbleich auf der Couch, darüber gebeugt die Rektorin und dazwischen auf dem Fußboden eine weiße Schüssel mit etwas Rotem darin, daneben die Dekanin auf den Knien. Wieder heulte das Nebelhorn, und sie hörte ihre eigene Stimme, unglaublich fern und dünn: «Sagt Peter –» Dann nichts mehr.
Jemand hatte Kopfweh – unerträgliches, gräßliches Kopfweh. Das weiße, helle Zimmer im Krankenrevier wäre ein ganz angenehmer Aufenthaltsort gewesen, wenn nicht diese bedrückende Nähe zu dieser Person mit dem Kopfweh gewesen wäre, die außerdem noch ganz entsetzlich stöhnte. Es kostete Mühe, sich zusammenzureißen und herauszufinden, was diese lästige Person wollte. Mit einer Anstrengung gleich der eines Flußpferdes, das sich aus einem Sumpf wuchtete, riß Harriet sich zusammen und stellte fest, daß es ihr Kopf war, der weh tat, und sie es war, die stöhnte, und daß die Krankenschwester schon erkannt hatte, was los war, und hilfsbereit zu ihr kam.
«Was ist denn um alles in der Welt –?» begann Harriet.
«Ah!» sagte die Krankenschwester. «Das ist schon besser. Nein – versuchen Sie nicht, sich aufzusetzen. Sie haben einen bösen Schlag auf den Kopf bekommen, und je ruhiger Sie liegen, desto besser.»
«Aha», sagte Harriet. «Ich habe ganz grauenhaftes Kopfweh.»
Nach kurzem Nachdenken konnte sie die schmerzhafteste Stelle irgendwo hinter dem rechten Ohr lokalisieren. Sie
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