Aufruhr in Oxford
Vines Wohnung offenstehen sah, überlegte sie es sich rasch anders; sie könnte sich von dort ein Buch ausleihen. Der kleine Vorraum war leer, aber im Wohnzimmer fuhr gerade ein Hausmädchen mit dem Staubtuch sonntäglich-flüchtig über den Schreibtisch. Harriet erinnerte sich, daß Miss de Vine in London war und bei ihrer Rückkehr gewarnt werden mußte.
«Um welche Zeit kommt Miss de Vine heute abend zurück? Wissen Sie das, Nellie?»
«Ich glaube, sie will mit dem Zug um 21 39 Uhr kommen, Miss.»
Harriet nickte, griff sich wahllos ein Buch vom Regal und ging damit auf die Loggia hinaus, wo ein Liegestuhl stand. Der Sonntagmorgen verrann, und sie dachte bei sich, wenn Peter um halb zwölf an seinem Reiseziel sein wollte, würde es Zeit, daß er sich auf den Weg machte. Sie erinnerte sich lebhaft, wie sie einmal in einem Krankenhaus hatte warten müssen, während eine Freundin operiert wurde; es hatte nach Äther gerochen, und im Wartezimmer hatte eine große schwarze Wedgewood-Vase mit Rittersporn gestanden.
Sie las eine Seite, ohne von dem Gelesenen etwas mitzubekommen, und als sie Schritte näherkommen hörte und aufblickte, sah sie in Miss Hillyards Gesicht.
«Lord Peter», sagte Miss Hillyard ohne Einleitung, «hat mich gebeten, Ihnen das zu übergeben. Er mußte in aller Eile abreisen, um seine Verabredung einzuhalten.»
Harriet nahm das Briefchen und sagte: «Danke.»
Miss Hillyard fuhr resolut fort: «Als ich gestern abend mit Ihnen sprach, stand ich unter dem Eindruck eines Mißverständnisses. Mir war die Schwierigkeit Ihrer Lage nicht voll bewußt. Ich fürchte nun, daß ich sie Ihnen unwissentlich noch erschwert habe, und dafür entschuldige ich mich.»
«Es ist schon gut», antwortete Harriet, sich in die übliche Floskel flüchtend. «Mir tut es auch leid. Ich war gestern abend sehr erregt und habe mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen. Diese elende Geschichte hat alles so unerträglich gemacht.»
«O ja», sagte Miss Hillyard, schon in natürlicherem Ton. «Wir sind alle ziemlich mit den Nerven am Ende. Wie ich höre, akzeptieren Sie jetzt meine Erklärung für mein gestriges Verhalten?»
«Voll und ganz. Es war unverzeihlich von mir, mich nicht zuerst zu vergewissern.»
«Der Schein kann trügen», stellte Miss Hillyard fest.
Eine Pause entstand.
«Nun», sagte Harriet endlich, «ich hoffe, wir können das jetzt alles vergessen.» Sie wußte, während sie sprach, daß zumindest etwas gesagt worden war, was nie vergessen werden konnte; sie hätte viel darum gegeben, wenn sie es hätte zurücknehmen können.
«Ich will mein Bestes tun», entgegnete Miss Hillyard. «Vielleicht neige ich in Dingen, die außerhalb meines Erfahrungsbereichs liegen, zu einem zu harten Urteil.»
«Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen», antwortete Harriet. «Bitte glauben Sie mir, daß ich auch mit mir selbst nicht sehr zufrieden bin.»
«Sehr wahrscheinlich nicht. Ich habe schon festgestellt, daß Leute, die zwischen zwei Möglichkeiten wählen können, anscheinend immer die falsche wählen. Aber das ist nicht meine Sache. Guten Morgen.»
Sie ging so unvermittelt, wie sie gekommen war. Harriet sah das Buch auf ihrem Schoß an und entdeckte, daß sie in der Anatomie der Melancholie von Robert Burton las.
« Fleat Heraclitus an rideat Democritus? Soll ich, wenn ich von diesen Symptomen zu sprechen versuche, mit Democritus lachen oder mit Heraclitus weinen? Sie sind so lächerlich und widersinnig auf der einen Seite und so bejammernswert und tragisch auf der anderen.»
Harriet holte am Nachmittag den Wagen aus der Garage und fuhr mit Miss Lydgate und der Dekanin zu einem Picknick in die Gegend von Hinksey. Als sie rechtzeitig zum Abendessen zurückkehrte, erwartete sie eine dringende Nachricht an der Pforte. Sie solle unverzüglich Lord Saint-George im Christ Church College anrufen. Als er sich meldete, klang seine Stimme aufgeregt.
«Hören Sie – ich kann Onkel Peter nicht erreichen – er ist wieder mal verschwunden, der Kerl. Aber passen Sie auf, ich habe heute nachmittag Ihr Gespenst gesehen und glaube, Sie müssen sich in acht nehmen!»
«Wo haben Sie sie gesehen? Und wann?»
«Gegen halb drei – spazierte am hellichten Tage über die Magdalen-Brücke. Ich war zu Mittag mit ein paar Freunden in Iffley gewesen, und wir wollten am Magdalen College gerade einen von ihnen absetzen, da sah ich sie. Sie lief da herum und führte Selbstgespräche, und ziemlich unheimlich sah sie aus.
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