Aufruhr in Oxford
Schatten, der über dem College lag, schien sich noch nicht auf ihre Gemüter geschlagen zu haben. Harriet betrachtete sie eine nach der andern.
«Ist das Miss Cattermole, da an dem Tisch rechts? In dem grünen Kleid und so unvorteilhaft zurechtgemacht?»
«Das ist die junge Dame», antwortete die Dekanin. «Woher wußten Sie das?»
«Ich kann mich erinnern, sie bei der Jahresfeier gesehen zu haben. Und wo ist die männermordende Miss Flaxman?»
«Die sehe ich nicht. Sie ißt vielleicht nicht hier. Viele kochen sich in ihrem Zimmer nur ein Ei, um sich nicht groß umziehen zu müssen. Diese jungen Dinger sind ja so faul. Und das ist Miss Hudson, die in dem roten Pullover am mittleren Tisch. Schwarzes Haar und Hornbrille.»
«Sieht ganz normal aus.»
«Ist sie auch, soviel ich weiß. Aber soviel ich weiß, sind wir das alle.»
«Ich nehme an», sagte Miss Pyke, die diese letzte Bemerkung mitgehört hatte, «selbst Mörder sehen so aus wie andere Menschen, Miss Vane. Oder halten Sie etwas von den Theorien des Herrn Lombroso? Wie ich höre, sind die ja inzwischen größtenteils geplatzt.»
Harriet war froh und dankbar, über Mörder reden zu dürfen.
Nach dem Abendessen wußte Harriet nichts Rechtes mit sich anzufangen. Sie hatte das Gefühl, etwas tun oder jemanden ausfragen zu müssen, wußte aber nicht, wo sie anfangen sollte. Die Dekanin hatte ihr gesagt, daß sie vorerst mit irgendwelchen Listen beschäftigt sei, später aber wieder Besuch empfangen könne. Miss Burrows, die Bibliothekarin, hatte noch damit zu tun, vor dem Besuch des Kanzlers letzte Hand an die Bibliothek zu legen; sie hatte fast den ganzen Tag Bücher herumgeschleppt und sortiert und eine Gruppe Studentinnen für das Einordnen in die Regale eingespannt. Mehrere andere Professorinnen hatten verkündet, sie hätten zu arbeiten; Harriet hatte den Eindruck, daß sie alle einander ein wenig aus dem Weg gingen.
Sie bekam die Quästorin zu fassen und fragte sie, ob es nicht einen Plan des College und ein Verzeichnis der verschiedenen Räume und ihrer Bewohnerinnen gebe. Miss Stevens erbot sich, ihr das Verzeichnis zu beschaffen, und sagte, einen Plan gebe es sicher im Büro der Schatzmeisterin. Sie ging mit Harriet in den Neuen Hof hinüber, um diese Dinge zu besorgen.
«Ich will hoffen», sagte die Quästorin, «daß Sie dieser unglücklichen Bemerkung von Miss Burrows über die Hausmädchen nicht allzuviel Bedeutung zumessen. Ich persönlich würde nur zu gern die Hausmädchen alle miteinander in ihrem eigenen Gebäudeflügel unterbringen, damit sie nicht mehr in Verdacht geraten könnten, wenn das nur ginge; aber dort ist nicht genug Platz. Natürlich macht es mir nichts aus, Ihnen die Namen derer zusammenzustellen, die im College wohnen, und erst recht bin ich damit einverstanden, daß Vorbeugemaßnahmen getroffen werden. Aber meiner Meinung nach schließt die Episode mit Miss Lydgates Korrekturbögen jeden Verdacht gegen die Hausmädchen aus. Von denen wissen wahrscheinlich nur ganz wenige, was es damit auf sich hat, und denen sind sie egal; und Manuskripte zu verstümmeln käme ihnen wahrscheinlich auch nicht in den Sinn. Niederträchtige Briefe – das wäre schon möglich. Aber die Vernichtung dieser Korrekturbögen war das Werk eines gebildeten Menschen. Meinen Sie nicht auch?»
«Ich sage besser nicht, was ich meine», antwortete Harriet.
«Da haben Sie auch wieder recht. Aber ich kann sagen, was ich meine. Ich würde es niemand anderem als Ihnen sagen. Aber ich kann es wirklich nicht leiden, wenn die Hausmädchen so voreilig zu Sündenböcken gestempelt werden.»
«Was mir an der Sache so unglaublich erscheint», sagte Harriet, «ist, daß ausgerechnet Miss Lydgate als Opfer auserkoren wurde. Wie könnte irgendwer – zudem noch eine ihrer eigenen Kolleginnen – etwas gegen sie haben? Sieht das nicht eher danach aus, als ob die Täterin die Bedeutung der Korrekturbögen nicht gekannt hätte und nur eine Trotzgeste gegen die Welt im allgemeinen beabsichtigte?»
«Das ist sicher möglich. Ich muß sagen, Miss Vane, daß Sie mit dem, was Sie heute gesagt haben, die Geschichte sehr kompliziert haben. Zugegeben, auch ich würde eher die Hausmädchen als das Dozentenkollegium verdächtigen; aber wenn so ein voreiliger Vorwurf ausgerechnet von derjenigen erhoben wird, die bekanntermaßen als letzte mit dem Manuskript zusammen in einem Zimmer war, kann ich nur sagen – nun, ich finde es einfach unbesonnen.»
Darauf sagte Harriet
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