Aufruhr in Oxford
vorstellen, von wem Opposition gegen ihre Ermittlungstätigkeit zu erwarten sein dürfte. Wenn jemand nach einem verdrehten Kopf suchte, war Miss Hillyards Kopf zumindest ein wenig verzogen. Und bei näherem Hinsehen war es in keiner Weise erwiesen, daß Miss Lydgates Fahnen je in die Bibliothek gebracht worden waren oder Miss Hillyards Hände überhaupt verlassen hatten. Außerdem war sie am Montagmorgen vor der Andacht zweifelsfrei auf der Schwelle zum Dozentenzimmer gesehen worden. Wenn Miss Hillyard wahnsinnig genug war, einen solchen Schlag gegen Miss Lydgate zu führen, war sie reif fürs Irrenhaus. Aber das traf ja nun auf jeden zu, der es gewesen war.
Sie trat in den Tudor-Bau, klopfte bei Miss Barton an und fragte, nachdem sie eingelassen worden war, ob sie sich ein Exemplar von Die Stellung der Frau im modernen Staat ausleihen könne.
«Der Spürhund auf der Fährte?» fragte Miss Barton. «Nun, bitte sehr, hier ist eins, Miss Vane. Übrigens möchte ich mich bei Ihnen für einiges entschuldigen, was ich bei Ihrem letzten Besuch hier gesagt habe. Ich werde sehr froh sein, wenn Sie diese höchst unangenehme Geschichte in die Hand nehmen, was ja für Sie auch nicht gerade erfreulich sein kann. Ich bewundere über die Maßen jeden, der es fertigbringt, seine eigenen Gefühle dem Nutzen der Allgemeinheit unterzuordnen. Es handelt sich offensichtlich um einen pathologischen Fall – was in meinen Augen bei antisozialem Verhalten immer zutrifft. Aber es geht wohl hier nicht um die Frage einer strafrechtlichen Verfolgung, denke ich. Oder hoffe ich zumindest. Mir ist ungemein daran gelegen, daß die Sache nicht vor Gericht kommt; und aus diesem Grunde bin ich auch dagegen, irgendwelche Detektive anzuheuern. Wenn Sie der Sache auf den Grund kommen könnten, wäre ich gern bereit, Sie in jeder Weise zu unterstützen.»
Harriet dankte der Professorin für ihre gute Meinung und das Buch.
«Sie sind doch hier wahrscheinlich die beste Psychologin», sagte Harriet. «Was halten Sie davon?»
«Wahrscheinlich das Übliche: das krankhafte Verlangen, Aufmerksamkeit und öffentliches Aufsehen zu erregen. Heranwachsende und die mittleren Jahrgänge kommen dafür am ehesten in Frage. Ich bezweifle sehr, daß mehr dahintersteckt als das. Darüberhinaus meine ich, daß die gelegentlichen Obszönitäten auf irgendeine sexuelle Störung hindeuten. Aber das ist in Fällen wie diesem auch ein Gemeinplatz. Ob Sie jedoch nach einer Amazone oder einer Sirene suchen müssen», fügte Miss Barton mit dem ersten Anflug von Humor hinzu, den Harriet je an ihr entdeckt hatte, «das kann ich Ihnen nicht sagen.»
Nachdem sie ihre diversen Erwerbungen in ihr Zimmer gebracht hatte, fand Harriet es an der Zeit, die Dekanin zu besuchen. Bei ihr traf sie Miss Burrows an, die nach getaner Arbeit in der Bibliothek müde und staubig war und soeben zur Stärkung ein Glas heiße Milch bekommen hatte, in das Miss Martin zur Förderung des Schlafes unbedingt einen Tropfen Whisky geben mußte.
«Wie man doch als Ehemalige einen ganz neuen Einblick in die Lebensgewohnheiten seiner Professorinnen bekommt», sagte Harriet. «Früher habe ich mir immer eingebildet, das einzige scharfe Getränk im College befinde sich hinter Schloß und Riegel in der Hausapotheke der Quästorin.»
«Früher war das auch so», sagte die Dekanin, «aber ich werde auf meine alten Tage unsolide. Sogar Miss Lydgate hat für Feiertage einen kleinen Vorrat Cherry Brandy, den sie hütet. Und die Quästorin spielt gar mit dem Gedanken, ein wenig Portwein fürs College einzukellern.»
«Allmächtiger!» rief Harriet.
«Die Studentinnen sollen natürlich keinen Alkohol trinken», sagte die Dekanin. «Aber ich möchte nicht gern für den Inhalt sämtlicher Schränke im College die Hand ins Feuer legen.»
«Schließlich», warf Miss Burrows ein, «erziehen ihre ungeratenen Eltern sie zu Hause schon zum Cocktailtrinken; da fänden sie es wohl lächerlich, wenn sie hier nicht dasselbe tun dürften.»
«Und was soll man dagegen tun? Ihre Zimmer von der Polizei durchsuchen lassen? Also, das lehne ich strikt ab. Wir können dieses College nicht führen wie ein Gefängnis.»
«Das Dumme ist nur», sagte die Bibliothekarin, «daß alle Welt sich über Verbote lustig macht und Freiheiten fordert, bis irgend etwas Ärgerliches passiert, dann fragen sie wütend, wohin es mit der Disziplin gekommen ist.»
«Die Disziplin alter Art kann man heute nicht mehr ausüben», sagte die
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