Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufruhr in Oxford

Aufruhr in Oxford

Titel: Aufruhr in Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
davongeschlichen, während Harriet und Miss Barton noch auf dem Hof miteinander rangen.
    Harriet fand die Treppe und eilte hinauf. Die Taschenlampe benutzte sie so wenig wie möglich und richtete ihren Strahl nach unten. Ihr war schlagartig klargeworden, daß die Person, die sie jagte, wirr im Kopf, wenn nicht völlig wahnsinnig war – sein mußte – und sie möglicherweise aus einer der dunklen Nischen heraus angreifen könnte. Sie hatte die Treppe hinter sich und stieß die gläserne Doppelschwingtür auf, die in den Gang zwischen Speisesaal und Kantine führte. Im selben Moment glaubte sie vor sich ein leises, schlurfendes Geräusch zu hören, und fast gleichzeitig sah sie den Schimmer einer Taschenlampe. Hier rechts hinter der Tür mußte ein Zweiwegeschalter sein. Sie fand ihn und drückte darauf. Ein kurzes Aufflackern, dann wieder Dunkelheit. Ein Kurzschluß? Dann mußte sie über sich selbst lachen. Natürlich nicht! Die Person am anderen Ende des Korridors mußte im selben Augenblick wie sie auf den Schalter gedrückt haben. Sie knipste ihn noch einmal an, und helles Licht ergoß sich über den Flur.
    Links sah sie drei Türen, dazwischen die Durchreichen zum Speisesaal. Rechts war die lange, leere Wand zwischen Flur und Küche, und vor ihr am anderen Ende des Ganges, gleich neben dem Kantineneingang, stand jemand und hielt mit der einen Hand einen Morgenmantel zusammen und in der anderen einen großen Krug.
    Harriet näherte sich rasch der Erscheinung, die ihr verlegen entgegenkam. Die Gesichtszüge kamen ihr bekannt vor, und eine Sekunde später wußte sie, wer es war. Miss Hudson, die Studentin im dritten Jahr, die bei der Jahresfeier gewesen war.
    «Was haben Sie um Himmels willen mitten in der Nacht hier zu suchen?» fragte Harriet streng. Sie hatte allerdings kein besonderes Recht, Studentinnen nach ihrem Tun und Lassen zu fragen. Auch hatte sie nicht gerade das Gefühl, in Schlafanzug und wollenem Morgenmantel viel Würde und Autorität auszustrahlen. Miss Hudson wirkte auch entsprechend verdattert, um drei Uhr morgens von einer Wildfremden derart angefahren zu werden. Sie starrte sie sprachlos an.
    «Warum soll ich nicht hier sein?» antwortete sie schließlich trotzig. «Ich weiß gar nicht, wer Sie sind. Ich habe das gleiche Recht wie Sie, hier herumzulaufen … ach Gott!» platzte sie schließlich lachend heraus. «Sie sind wahrscheinlich eines von den Hausmädchen. Ich habe Sie nur ohne Ihre Tracht nicht erkannt.»
    «Nein», sagte Harriet, «ich bin eine ehemalige Studentin. Sie sind Miss Hudson, nicht wahr? Aber Ihr Zimmer liegt nicht hier. Waren Sie in der Kantine?» Ihr Blick richtete sich auf den Krug. Miss Hudson errötete.
    «Ja – ich wollte mir etwas Milch holen. Ich bin an einem Aufsatz.»
    Sie sprach davon wie von einer Krankheit. Harriet lachte leise.
    «Geht das also noch immer so? Carrie scheint genauso ein weiches Herz zu haben wie Agnes zu meiner Zeit.» Sie ging zur Kantinendurchreiche, aber die war verschlossen. «Nein, anscheinend doch nicht.»
    «Ich hatte sie gebeten, sie offen zu lassen», sagte Miss Hudson, «aber das hat sie wohl vergessen. Hören Sie – verraten sie Carrie bitte nicht. Sie ist so schrecklich nett.»
    «Sie wissen aber sehr gut, daß Carrie die Durchreiche nicht offen lassen darf. Sie müssen sich Ihre Milch vor zehn Uhr abends holen.»
    «Ich weiß. Aber man weiß ja nicht immer, ob man überhaupt noch welche haben will. Sie haben es wohl zu Ihrer Zeit genauso gemacht, ja?»
    «Ja», sagte Harriet. «Nun, dann gehen Sie jetzt am besten mal. Moment noch! Wann sind Sie hier heraufgekommen?»
    «Eben erst. Ein paar Sekunden vor Ihnen.»
    «Sind Sie jemandem begegnet?»
    «Nein.» Miss Hudson sah erschrocken drein. «Warum? Ist etwas passiert?»
    «Nicht daß ich wüßte. Gehen Sie jetzt zu Bett.»
    Miss Hudson machte sich davon, und Harriet probierte die Kantinentür, die so fest verschlossen war wie die Durchreiche. Dann ging sie weiter durch die belletristische Abteilung, die leer war, und legte die Hand auf die Klinke der Eichentür, die in die Neue Bibliothek führte.
    Die Tür bewegte sich nicht. Kein Schlüssel steckte im Schloß. Harriet sah sich um. Auf der Fensterbank lag ein dünner Bleistift, daneben ein Buch und ein paar Blatt Papier. Sie schob den Bleistift ins Schlüsselloch; er traf auf keinen Widerstand.
    Sie ging zum Fenster und schob es hoch. Es führte auf das Dach einer kleinen Loggia. Zwei Leute waren nicht genug für dieses

Weitere Kostenlose Bücher