Aufruhr in Oxford
Räuber-und-Gendarm-Spiel. Sie schob einen Tisch vor die Bibliothekstür, damit sie hörte, wenn jemand von dort herauszukommen versuchte; dann kletterte sie auf das Loggiadach und beugte sich über die Balkonbrüstung. Sie konnte unten nichts Bestimmtes erkennen, aber sie zog die Lampe aus der Tasche und gab damit Zeichen.
«Hallo!» rief Miss Bartons Stimme vorsichtig herauf.
«Die andere Tür ist verschlossen, und der Schlüssel ist nicht da.»
«Das ist schlecht. Wenn eine von uns weggeht, kann jemand herauskommen. Und wenn wir um Hilfe rufen, gibt’s einen Mordskrach.»
«So ist es», sagte Harriet.
«Also, hören Sie mal zu; ich versuche jetzt durch eines der Erdgeschoßfenster einzusteigen. Sie scheinen alle verriegelt zu sein, aber ich kann ja eine Scheibe eindrücken.»
Harriet wartete. Bald darauf hörte sie ein leises Klirren. Kurze Stille, dann hörte sie, wie ein Fenster hochgeschoben wurde. Jetzt blieb es länger still. Harriet kehrte in die belletristische Abteilung zurück und zog den Tisch von der Bibliothekstür weg. Nach sechs bis sieben Minuten sah sie die Klinke sich bewegen und hörte ein Klopfen von der anderen Seite des Eichenholzes. Sie bückte sich zum Schlüsselloch hinunter und rief: «Was gibt’s?» Dann legte sie ihr Ohr daran.
«Niemand hier», antwortete Miss Bartons Stimme von der anderen Seite. «Der Schlüssel ist weg. Und hier sieht’s vielleicht aus!»
«Ich komme.»
Sie eilte durch den Speisesaal zurück und um das Haus herum zur Vorderfront der Bibliothek. Hier fand sie das Fenster, das Miss Barton geöffnet hatte, kletterte hindurch und lief die Treppe hinauf zur Bibliothek.
«Du meine Güte!»
Die Neue Bibliothek war ein schöner, hoher Saal mit sechs Büchernischen an der Südseite, erhellt von ebenso vielen Fenstern, die fast vom Boden bis zur Decke reichten. Die Nordwand war fensterlos und wurde von drei Meter hohen Bücherregalen eingenommen. Darüber war noch ein Stück freie Wandfläche, an der man auch Regale anbringen konnte, falls die Bücher später einmal für die vorhandenen Regale zuviel würden. Diese freie Fläche war von Miss Burrows und ihrem Arbeitstrupp mit Stichen geschmückt worden, wie jede akademische Gemeinschaft sie besitzt und die den Parthenon darstellten, das Kolosseum, die Trajanssäule und andere topographische und klassische Motive.
Alle Bücher waren auf den Boden geworfen worden, und zwar durch einfaches Umkippen der Regale. Die Bilder waren von den Wänden gerissen. Die dadurch freigewordene Wandfläche schmückte nun ein Fries aus groben Gemälden in brauner Farbe mit Inschriften in fußhohen Lettern, alle von einer höchst unschicklichen Art. Mitten in dem wüsten Haufen standen zwei Bibliothekstritte und ein Eimer Farbe mit einem breiten Pinsel darin und legten triumphierend Zeugnis davon ab, wie die Verwandlung bewerkstelligt worden war.
«Eine schöne Bescherung», sagte Harriet.
«Ja», bestätigte Miss Barton. «Ein wunderhübscher Empfang für Lord Oakapple.»
In ihrer Stimme schwang ein merkwürdiger Ton mit – fast wie Befriedigung. Harriet sah sie scharf an.
«Was wollen Sie jetzt machen? Was macht man da überhaupt? Mit der Lupe die ganze Gegend absuchen? Oder die Polizei rufen?»
«Keins von beiden», sagte Harriet. Sie überlegte kurz.
«Als erstes», sagte sie, «müssen wir die Dekanin rufen. Als nächstes müssen wir den Original- oder einen Ersatzschlüssel finden. Drittens gehören diese unanständigen Inschriften entfernt, bevor sie jemand sieht. Und viertens muß der Saal bis zwölf Uhr wieder in Ordnung gebracht werden. Wir haben reichlich Zeit. Würden Sie so nett sein und der Dekanin Bescheid sagen gehen und sie mitbringen? Inzwischen sehe ich mich hier nach Spuren um. Wir können uns hinterher noch darüber unterhalten, wer das gemacht hat und wie sie hier rausgekommen ist. Beeilen Sie sich, bitte.»
«Hm», sagte die Professorin. «Ich mag Leute, die wissen, was sie wollen.»
Damit entfernte sie sich überraschend prompt.
«Ihr Morgenmantel ist ganz voll Farbe», sagte Harriet laut bei sich. «Aber das kann beim Hineinklettern passiert sein.» Sie ging hinunter und begutachtete das geöffnete Fenster. «Ja, hier ist sie über die frisch gestrichene Heizung gestiegen. Wahrscheinlich bin ich selbst beschmiert. Ja, tatsächlich. Ob alles nur von dort kam, läßt sich nicht feststellen. Nasse Fußspuren – ihre und meine, kein Zweifel. Moment mal!»
Sie verfolgte die feuchten Spuren die Treppe
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