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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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ich vergaß …«
    »Schon gut, schon gut, egal, Sie zahlen morgen beim Diner. Ich wollte nur wissen … bitte …«
    Er verstummte und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, noch ungehaltener. Beim Gehen trat er jetzt mit den Absätzen auf und stampfte immer lauter.
    »Ich halte Sie doch nicht auf?« fragte ich nach einem Schweigen, das zwei Minuten lang angehalten hatte.
    »O nein«, fuhr er plötzlich auf, »das heißt, im Grunde ja. Sehen Sie, ich hätte noch etwas zu besorgen … hier in der Nähe …«, fügte er mit irgendwie schuldbewußter Stimme hinzu, ein wenig verlegen.
    »Ach, mein Gott, warum haben Sie das nicht gleich gesagt«, rief ich, indem ich nach meiner Mütze griff, und zwar mit erstaunlicher Ungezwungenheit, die Gott weiß woher über mich kam.
    »Es ist ja nicht weit … ein paar Schritte …«, wiederholte Simonow, als er mich durch den Flur begleitete, mit einer Geschäftigkeit, die ihm durchaus nicht zu Gesicht stand. »Also morgen Punkt fünf!« rief er mir nach, als ich bereits auf der Treppe stand; er war zu froh, daß ich ging. Ich war rasend vor Wut.
    “Mußtest du dich einmischen!” knirschte ich mit den Zähnen, indem ich durch die Straßen lief, “ausgerechnet diesem Gauner, diesem Ferkel, diesem Swerkow. Selbstverständlich darf man nicht hingehen; selbstverständlich soll sie der Kuckuck holen: bin ich denn etwa verpflichtet hinzugehen? Morgen werde ich Simonow durch die Stadtpost benachrichtigen …”
    Aber ich war gerade deshalb so wütend, weil ich mit Sicherheit wußte, daß ich doch hingehen würde, daß ich absichtlich hingehen würde; und je taktloser, je ungehöriger es wäre hinzugehen, um so eher würde ich es tun.
    Es gab sogar einen positiven Grund, nicht hinzugehen: ich hatte kein Geld. Alles in allem besaß ich neun Rubel. Aber sieben davon mußte ich bereits morgen Apollon, meinem Diener, als Monatsgehalt auszahlen, der mir für sieben Rubel monatlich, bei eigener Kost, aufwartete.
    Ihn nicht auszuzahlen war unmöglich, da ich Apollons Charakter nur zu gut kannte. Doch auf diese Kanaille, auf dieses Kreuz werde ich noch ausführlich zu sprechen kommen.
    Übrigens wußte ich ja, daß ich ihn doch nicht entlohnen, sondern unbedingt hingehen würde.
    In jener Nacht hatte ich die abscheulichsten Träume. Kein Wunder: den ganzen Abend hatten mich Erinnerungen aus den Zuchthausjahren meiner Schulzeit gequält, und ich konnte sie nicht loswerden. In diese Schule war ich von meinen entfernten Verwandten abgeschoben worden, von denen ich abhängig war und die ich seither völlig aus den Augen verloren habe – ich wurde einfach abgeschoben, eine Waise, durch ihre Vorwürfe schon verschüchtert, schon nachdenklich, schweigsam und scheu um mich blickend. Meine Mitschüler empfingen mich mit boshaftem und unbarmherzigem Spott, weil ich keinem von ihnen ähnlich war. Ich aber konnte keinen Spott ertragen; ich konnte mich nicht so leicht mit ihnen abfinden, wie sie sich miteinander abgefunden hatten. Ich haßte sie vom ersten Tage an und verschanzte mich vor ihnen hinter einem scheuen, tödlich verwundeten und unbändigen Stolz. Ihre Roheit empörte mich. Sie lachten zynisch über mein Gesicht, über meine unbeholfene Gestalt; und was hatten sie selbst für dumme Gesichter! In unserer Schule nahmen die Gesichter mit der Zeit einen irgendwie ganz besonders dummen und veränderten Ausdruck an. Wie viele prächtige Kinder traten bei uns ein! Nach einigen Jahren war es schon widerlich, sie auch nur anzusehen. Mit sechzehn Jahren wunderte ich mich über sie voller Grimm; schon damals wunderte ich mich über die Kleinlichkeit ihres Denkens, die Dummheit ihrer Beschäftigungen, ihrer Spiele, ihrer Reden. Sie hatten so wenig Verständnis für die notwendigsten Dinge, so wenig Interesse für die auffallendsten und erstaunlichsten Gegenstände, daß ich sie unwillkürlich für unter mir stehende Geschöpfe hielt. Nicht etwa beleidigter Ehrgeiz brachte mich dazu, und kommen Sie mir um Gottes willen nicht mit den bis zur Übelkeit bekannten Gemeinplätzen: ich hätte wohl nur in meinen Träumen gelebt, sie aber hätten schon damals das wirkliche Leben begriffen. Nichts hatten sie begriffen, keinerlei wirkliches Leben. Ich schwöre, das war es ja gerade, was mich an ihnen am meisten ärgerte. Im Gegenteil, die offenkundigste, ins Auge springende Wirklichkeit nahmen sie phantastisch dumm auf und huldigten schon damals nur dem Erfolg. Alles, was zwar im Recht, jedoch erniedrigt und

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