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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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›Aber jetzt geht es nicht mehr ums Denken: jetzt beginnt die Wirklichkeit‹, dachte ich und verlor immer mehr den Mut. Ich wußte im selben Augenblick ganz genau, daß ich alle diese Tatsachen ungeheuer übertrieb; aber was sollte ich machen, ich konnte mich nicht mehr beherrschen und hatte Schüttelfrost. Verzweifelt malte ich mir aus, wie herablassend und kühl mich dieser ›Schuft‹ Swerkow begrüßen würde; mit welch stumpfsinniger, unüberwindlicher Verachtung dieser Schafskopf Trudoljubow mich betrachten, wie niederträchtig und dreist der Kakerlak Ferfitschkin über mich kichern würde, um sich bei Swerkow einzuschmeicheln; wie vorzüglich Simonow das alles überschauen und mich wegen meiner Eitelkeit und Schwäche verachten würde, und die Hauptsache – wie kläglich, wie unliterarisch , wie alltäglich das alles sein würde. Natürlich, am besten wäre es, überhaupt nicht hinzugehen. Aber gerade das war ganz und gar unmöglich: wenn es mich schon einmal irgendwohin zog, dann ließ ich mich völlig hineinziehen, bis über den Kopf. Ich hätte mich mein Leben lang damit geneckt: ›Ätsch, da sieht du, da hast du doch gekniffen, du hast vor der Wirklichkeit gekniffen, hast gekniffen!‹ Ganz im Gegenteil, ich war leidenschaftlich darauf bedacht, gerade diesem Pack zu beweisen, daß ich keineswegs der Feigling war, für den ich mich hielt. Nicht genug damit, im stärksten Paroxysmus meiner fieberhaften Feigheit träumte ich davon, sie alle zu besiegen, zu unterwerfen, mitzureißen, sie zu zwingen, mich zu lieben – nun, sagen wir, wegen ›der Erhabenheit meines Geistes und des nicht zu bezweifelnden Scharfsinns‹. Sie werden Swerkow verlassen, er wird abseits sitzen, schweigend und verlegen, ich aber werde Swerkow vernichten. Später würde ich mich unter Umständen wieder mit ihm versöhnen und Brüderschaft trinken, aber ich wußte bereits, und das war am bittersten und kränkendsten für mich – ich wußte bereits, ich wußte eindeutig und mit Sicherheit, daß ich das alles in Wirklichkeit überhaupt nicht brauchte, daß ich in Wirklichkeit überhaupt niemanden vernichten, unterwerfen oder mitreißen wollte und daß ich für dieses ganze Resultat, wenn ich es auch erzwingen könnte, ich, ich persönlich nicht eine Kopeke geben würde. Oh, wie betete ich zu Gott, dieser Tag möge schon vorüber sein! In unaussprechlicher Qual trat ich immer wieder ans Fenster, öffnete es und starrte hinaus in die trübe Dämmerung, in das dichte Treiben der schweren nassen Flocken.
    Endlich zischte meine kleine erbärmliche Wanduhr fünfmal. Ich nahm meine Mütze und schlüpfte dann, bemüht, ihn nicht anzusehen, an Apollon vorbei, der schon seit dem Morgen auf seinen Lohn wartete, mich aber vor lauter Stolz nicht ansprechen wollte, und fuhr in einem guten Schlitten, den ich für meinen letzten Fünfziger nahm, vornehm am Hôtel de Paris vor.

IV
    Schon am Vorabend war mir klar, daß ich als erster eintreffen würde. Aber jetzt war das nicht mehr das schlimmste.
    Nicht nur, daß noch keiner von ihnen erschienen war, ich konnte nicht einmal unser Zimmer finden. Der Tisch war noch nicht fertig gedeckt. Was sollte das bedeuten? Nach langem Hin und Her erfuhr ich endlich von den Kellnern, daß das Essen auf sechs und nicht auf fünf Uhr bestellt war. Das bestätigte man mir auch am Buffet. Es wurde peinlich, weiter nachzuforschen. Es war erst fünfundzwanzig Minuten nach fünf. Wenn sie schon die Zeit geändert hatten, so wäre es in jedem Falle ihre Pflicht gewesen, mich davon zu unterrichten, dazu gab es die Stadtpost, und mich nicht der ›Schande‹ auszusetzen, sowohl vor mir selbst als auch … auch vor dem Personal. Ich setzte mich; ein Kellner deckte den Tisch; in seiner Gegenwart war das Warten noch kränkender. Gegen sechs Uhr wurden zu den bereits brennenden Lampen noch Kerzen gebracht, dem Kellner war es gar nicht eingefallen, sie sofort bei meinem Eintreffen zu holen. Im Nebenzimmer speisten an verschiedenen Tischen zwei verdrießliche Gäste, mürrisch und schweigsam. In einem der entfernteren Zimmer ging es laut her, es wurde sogar gebrüllt. Man hörte das Gelächter einer ganzen Menge Menschen; man hörte ordinäres französisches Gekreisch: ein Essen mit Damen. Kurz, es war widerlich. Selten habe ich scheußlichere Minuten erlebt, und als sie endlich Punkt sechs gemeinsam erschienen, freute ich mich über sie wie über Befreier und vergaß beinahe, daß ich verpflichtet war, den Beleidigten zu

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