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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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sonderbaren Blick an. Es tat mir weh; ich wollte so schnell wie möglich hinaus, verschwinden.
    »Warten Sie«, sagte sie plötzlich, als wir schon im Flur an der Tür angelangt waren, wobei sie mich am Mantel zupfte, stellte dann das Licht irgendwo ab und stürzte davon –, offensichtlich war ihr etwas eingefallen oder sie wollte mir etwas zeigen. Im Weglaufen errötete sie wieder, ihre Augen glänzten, ein Lächeln spielte um ihren Mund – was mochte es sein? Ich wartete: sie kam sofort zurück mit einem Blick, der gleichsam um Vergebung bat. Überhaupt war es nicht mehr dasselbe Gesicht, nicht mehr derselbe Blick wie vorhin – düster, mißtrauisch und starr. Ihre Augen waren jetzt bittend, weich und zutraulich, zärtlich und schüchtern zugleich. So pflegen Kinder diejenigen anzusehen, die sie sehr lieben und von denen sie etwas erbitten möchten. Sie hatte hellbraune Augen, wundervolle, lebendige Augen, die sowohl Liebe als auch düsteren Haß widerzuspiegeln vermochten.
    Ohne mir etwas zu erklären, als ob ich wie ein höheres Wesen alles auch ohne Erklärung wissen müßte, hielt sie mir ein Blatt hin. Ihr ganzes Gesicht erstrahlte in diesem Augenblick in einem naiven, beinahe kindlichen Triumph. Ich entfaltete das Blatt. Es war ein Brief an sie, von irgendeinem Medizinstudenten oder so etwas – eine hochtrabende, blumenreiche, doch außerordentlich ehrerbietige Liebeserklärung. Ich habe die Einzelheiten vergessen, aber ich kann mich noch sehr gut erinnern, daß durch den verschnörkelten Stil ein aufrichtiges Gefühl hindurchleuchtete, das man nicht vortäuschen kann. Als ich zu Ende gelesen hatte, begegnete ich ihrem heißen, neugierigen und kindlich ungeduldigen Blick. Ihre Augen hingen an meinem Gesicht, und sie wartete ungeduldig, was ich sagen würde. In kurzen Worten, eilig, aber irgendwie freudig und voll Stolz, erklärte sie mir, daß sie auf einem Tanzabend in einer Familie gewesen wäre, bei »sehr, sehr guten Menschen, in einer Familie , und wo man noch nichts weiß, nicht das geringste « – denn sie war ja hier erst seit ganz kurzem und nur so … sie hat sich durchaus nicht entschlossen zu bleiben, sie wird sogar bestimmt gehen, sobald ihre Schulden bezahlt sind … – Nun, und dort war dieser Student, er hatte den ganzen Abend mit ihr getanzt und gesprochen, und es hatte sich herausgestellt, daß er gleichfalls aus Riga war, daß sie sich bereits als Kinder gekannt und zusammen gespielt hatten, nur war das alles schon sehr lange her – sogar ihre Eltern kannte er, doch davon weiß er nichts, nichts, nichts und ahnt nicht einmal etwas! Und da hat er am Tag nach dem Fest (vor drei Tagen) durch ihre Freundin, mit der sie dorthin gegangen war, diesen Brief geschickt … und … und das ist alles.«
    Irgendwie verschämt senkte sie ihre funkelnden Augen, als sie ihre Erzählung beendet hatte.
    Die Ärmste, sie bewahrte diesen Brief wie eine Kostbarkeit und holte diese einzige Kostbarkeit eilig hervor, weil sie nicht wollte, daß ich fortginge, ohne zu erfahren, daß auch sie in Ehren und aufrichtig geliebt wurde, daß man auch zu ihr ehrerbietig sprach. Vermutlich war es wohl diesem Brief beschieden, ohne alle Folgen in einem Kästchen liegenzubleiben. Aber das hatte nichts zu sagen; ich bin überzeugt, daß sie ihn ihr Leben lang wie eine Kostbarkeit bewahren würde, als ihren Stolz und ihre Rechtfertigung. Jetzt, in diesem Augenblick, fiel ihr der Brief ein, und sie holte ihn hervor, um ihn mir mit naivem Stolz zu zeigen, um in meinen Augen wieder zu steigen, auch ich sollte ihn sehen, auch ich sollte ihn bewundern. Ich sagte kein Wort, drückte ihr die Hand und ging hinaus. Ich wollte fort … Ich legte den ganzen Weg zu Fuß zurück, obwohl der nasse Schnee immer noch in dichten schweren Flocken fiel. Ich war zerquält, vernichtet, fassungslos. Doch die Wahrheit schimmerte bereits durch die Fassungslosigkeit hindurch. Eine scheußliche Wahrheit!

VIII
    Ich habe mich übrigens mit dieser Wahrheit nicht so bald einverstanden erklärt. Als ich am Morgen nach einigen Stunden schweren, bleiernen Schlafes erwachte und mich sofort an den ganzen vergangenen Tag erinnerte, wunderte ich mich sogar über meine gestrige Sentimentalität mit Lisa, über “dieses ganze gestrige Entsetzen und Mitleid”. –
    “Was für eine weibische Nervosität einen doch manchmal überfallen kann!” entschied ich. “Und wozu habe ich ihr eigentlich meine Adresse aufgedrängt? Und wenn sie nun jetzt

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