Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
bis zur Boshaftigkeit sorgenvollen Gesichtern von ihrer Arbeit nach Hause strebten. Mir gefiel gerade dieses Hasten nach der Kopeke, diese unverfrorene Prosa. An jenem Abend wirkte das Straßengedränge ganz besonders aufreizend auf mich. Ich konnte mit mir nicht fertig werden, ich konnte die Enden nicht finden. Irgend etwas stieg in mir auf, ununterbrochen stieg es in meiner Seele auf, unter Schmerzen, und ließ sich nicht abweisen. Gänzlich zerschlagen kehrte ich schließlich heim. Es war mir, als laste auf meiner Seele irgendein Verbrechen.
Es quälte mich beständig der Gedanke, daß Lisa kommen würde. Mich wunderte, daß von allen gestrigen Erinnerungen die Erinnerung an sie mich irgendwie besonders, von allem anderen irgendwie unabhängig quälte. Es gelang mir, alles andere bis zum Abend zu vergessen, einen Schlußstrich zu ziehen, und ich war immer noch mit meinem Brief an Simonow völlig zufrieden. Aber mit dem einen war ich nicht zufrieden, Es war geradezu, als quälte mich nur Lisa allein. “Wenn sie aber jetzt kommt?” dachte ich ununterbrochen. “Nun, dann wird sie eben kommen. Hm! Allein schon, daß sie zum Beispiel sehen wird, wie ich wohne. Gestern trat ich als Held auf … Und jetzt, hm! Eigentlich ist es doch schändlich, daß ich so heruntergekommen bin. Die Wohnung ist richtig armselig. Und gestern konnte ich mich entschließen, in solchen Kleidern zum Essen zu gehen! Und mein Wachstuchsofa, aus dem das Seegras herausquillt! Und mein Schlafrock, der vorne nicht zugeht! Lauter Fetzen … Und sie wird das alles sehen; und auch Apollon wird sie sehen. Dieses Rindvieh wird sie bestimmt beleidigen. Er wird sie beleidigen, um mich zu ärgern. Ich aber werde selbstverständlich nach alter Gewohnheit verlegen werden, vor ihr tänzeln, die Schlafrockschöße übereinanderschlagen, werde lächeln, lügen. Oh, diese Schändlichkeit! Aber das ist noch nicht die größte Schändlichkeit! Hier gibt es etwas noch Tieferes, Widerlicheres, Gemeineres! Ja, Gemeineres! Und wieder, wieder diese ehrlose, verlogene Maske!”
Bei diesem Gedanken angelangt, fuhr ich förmlich hoch: “Warum denn ehrlos? Wieso ehrlos? Ich habe doch gestern aufrichtig gesprochen. Ich erinnere mich doch noch, daß auch in mir ein echtes Gefühl war. Ich wollte ja gerade in ihr edle Gefühle wecken … Und wenn sie ein wenig weinte, so ist das gut, es wird eine heilsame Wirkung haben.”
Und dennoch konnte ich mich nicht beruhigen.
Diesen ganzen Abend, auch nachdem ich zurückgekehrt war, bereits nach neun, also zu einer Zeit, da Lisa wohl nicht mehr kommen konnte, sah ich sie immer wieder vor mir, und zwar in ein und derselben Stellung. Es war ein Bild, das von allem Gestrigen sich besonders deutlich mir eingeprägt hatte: wie ich mit dem Streichholz plötzlich das Zimmer erhellte und ihr bleiches, verzerrtes Gesicht mit dem leidenden Blick vor mir sah. Und was für ein klägliches, was für ein gezwungenes, verzerrtes Lächeln hatte sie in diesem Augenblick! Dabei wußte ich damals noch nicht, daß ich auch nach fünfzehn Jahren Lisa noch immer mit diesem kläglichen, verzerrten, unnötigen Lächeln von damals vor mir sehen würde.
Am folgenden Tage war ich wieder bereit, das Ganze für Unsinn, Nervosität und vor allen Dingen übertrieben zu halten. Ich war mir dieser Schwäche immer bewußt und habe mich zuweilen sehr vor ihr gefürchtet: “Das ist es ja, daß ich alles übertreibe, das ist nun einmal mein Elend”, wiederholte ich mir stündlich. Aber übrigens, “übrigens wird Lisa wahrscheinlich trotzdem kommen” – das war der Refrain, mit dem alle meine Gedanken damals endeten. Ich war dermaßen aufgeregt, daß ich zuweilen in größte Wut geriet: “Sie wird kommen! Sie wird unbedingt kommen!” rief ich aus, im Zimmer auf und ab laufend. “Wenn nicht heute, dann morgen, sie wird mich schon finden! Das ist die verfluchte Romantik all dieser reinen Herzen ! Oh, diese Gemeinheit, diese Dummheit, diese Beschränktheit all dieser verwünschten sentimentalen Seelen! Nun, wie soll man das nicht begreifen, wie kann man das bloß nicht begreifen?” Aber hier mußte sogar ich verstummen, und zwar in großer Verwirrung.
“Und wie wenige, wenige Worte waren erforderlich”, dachte ich flüchtig, “wie wenige Worte, wie wenig Idyll (und dazu noch gespreiztes, erdachtes, literarisches Idyll), um sofort ein ganzes Leben nach eigenem Willen in eine andere Bahn zu lenken. Das ist Jungfräulichkeit! Das ist
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