Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Gesundheit, Jugend, Schönheit, Hoffnungen, mit zweiundzwanzig Jahren wirst du aussehen wie eine Fünfunddreißigjährige und wirst noch Glück haben, wenn du bis dahin noch nicht krank bist, und Gott dafür danken müssen. Du denkst jetzt sicher noch, daß du hier nicht zu arbeiten brauchst und dich vergnügen kannst! Aber es gibt auf der ganzen Welt keine Arbeit, die schwerer und gemeiner wäre. Das Herz zerfließt förmlich in Tränen. Aber kein Wort wirst du sagen dürfen, kein halbes Wörtchen, wenn man dich hier hinauswirft, du schleichst dich wie eine Schuldige davon. Du kommst in ein anderes Haus, dann in ein drittes, dann wieder in ein anderes und wirst schließlich auf der Sennaja landen. Dort aber ist das Prügeln an der Tagesordnung; es ist die dort übliche Zärtlichkeit. Dort kann der Gast ohne Prügel nicht zärtlich sein. Du glaubst nicht, daß es dort so zugeht? Geh mal hin, dann wirst du’s mit eigenen Augen sehen. Ich habe dort einmal am Neujahrstage eine vor der Tür gesehen. Ihre eigenen Genossinnen hatten sie hinausgesetzt und hinter ihr die Tür zugeschlagen; sie sollte sich ein wenig abkühlen, weil sie allzu laut geheult hatte. Schon um neun Uhr morgens war sie völlig betrunken, zerzaust, halb nackt und blaugeschlagen. Das Gesicht geschminkt, aber unter den Augen blaue Flecke; blutende Nase und Lippen; irgendein Droschkenkutscher mußte sie gerade gehörig bearbeitet haben. Sie ließ sich auf die steinernen Stufen nieder, in der Hand hielt sie irgendeinen gesalzenen Fisch; sie heulte, beklagte ihr Los und schlug dabei mit dem Fisch gegen die Stufen. Kutscher und betrunkene Soldaten versammelten sich um die Treppe und neckten sie. Du kannst dir wohl nicht denken, daß es auch dir so gehen wird. Auch ich möchte lieber nicht daran denken; aber woher willst du es wissen, vielleicht kam gerade diese mit dem gesalzenen Fisch vor etwa zehn oder acht Jahren hierher – sie kam frisch, wie ein kleiner Engel, unschuldig und rein; sie ahnte nichts Böses und errötete bei jedem Wort. Vielleicht war sie genauso wie du, stolz und empfindlich, den anderen unähnlich, sah vielleicht wie eine Königin drein und wußte selbst, welches Glück jenen erwartet, der sie lieben und den sie wiederlieben würde. Und siehst du nun, welches Ende es genommen hat? Und wenn sie im selben Augenblick, als sie dort mit diesem Fisch auf die schmutzigen Stufen klopfte, betrunken und zerzaust, wenn sie sich gerade in diesem Augenblick ihrer früheren reinen Jahre im Elternhaus erinnerte, als sie noch in die Schule ging und der Nachbarssohn sie auf dem Heimweg erwartete und ihr beteuerte, daß er sie sein ganzes Leben lang lieben werde, daß er nur für sie leben möchte, und wie sie dann zusammen beschlossen, sich ewig zu lieben und zu heiraten, wenn sie groß wären! Nein, Lisa, du kannst von Glück, wirklich von Glück sagen, wenn du irgendwo dort in der Ecke, in einem Keller, so bald wie möglich an Schwindsucht stirbst. Du sprachst vorhin vom Krankenhaus. Wenn man dich hinbringt, ist alles gut, wenn aber die Wirtin dich noch brauchen kann? Schwindsucht ist etwas anderes als Influenza. Ein Schwindsüchtiger hofft bis zum letzten Augenblick und behauptet, er sei gesund, er macht sich das selbst vor. Für die Wirtin aber ist das vorteilhaft. Glaub mir, das ist so; du hast dich verkauft, du bist Geld schuldig, also darfst du keinen Muckser tun. Wenn’s aber ans Sterben geht, werden alle dich verlassen, alle dir den Rücken zukehren, denn dann ist bei dir nichts mehr zu holen. Dann wird man dir auch noch vorwerfen, daß du unnütz Platz wegnimmst und nicht schnell genug stirbst. Du wirst sie um einen Schluck Wasser anflehen, aber auch den bekommst du nur unter Verwünschungen: ›Wann krepierst du endlich, du Aas, du läßt uns nicht schlafen, stöhnst in der Nacht, die Gäste nehmen daran Anstoß.‹ Das wird bestimmt so kommen; ich selbst habe solche Reden einmal gehört. Man steckt dich, wenn du mit dem Tode ringst, in den schmutzigsten Kellerwinkel – in Dunkelheit und Moder; was für Gedanken werden dir durch den Kopf gehen, wenn du dort allein liegst? Bist du gestorben, so packt man dich hastig, lieblos, mürrisch und ungeduldig in den Sarg – keiner segnet dich, keinem entringt sich auch nur ein Seufzer, alles geschieht in größter Eile. Man kauft einen billigen Sarg und trägt dich dann hinaus, so wie man heute diese Arme hinausgetragen hat, und dann gedenkt man deiner in der Schenke. Im Grabe Schlamm, Moder,
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