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Aufzeichnungen eines Außenseiters

Aufzeichnungen eines Außenseiters

Titel: Aufzeichnungen eines Außenseiters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Bukowski
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würde sie beiseite schaffen müssen. Das Blut unter dem Körper war längst getrocknet und bildete einen harten Belag auf dem Fußboden. Die Sonne kam nun doch noch durch die Wolken, es war später Nachmittag, ging schon auf den Abend zu, und der Himmel wurde rötlich, und etwas von dem rötlichen Licht kam durchs Küchenfenster. Man konnte fast verfolgen, wie es sich hereintastete, ganz langsam, wie ein riesiger Schneckenfühler. Die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten, und unter ihr, merkwürdig verrenkt, kam der rechte Arm an der Seite heraus, so daß die Handfläche nach oben zeigte. Der rötliche Schneckenfühler ruhte genau auf der Handfläche, so daß sie leicht rosa schimmerte. Das fiel Jack auf. Es sah so unschuldig aus. Nichts als eine Hand, eine einsame rosa Hand auf dem Fußboden. Fast wie eine Blume. Für einen Augenblick hatte Jack den Eindruck, daß sie sich bewegte. Nein, sie hatte sich nicht bewegt. Eine rosa Hand. Nur eine Hand. Eine unschuldige Hand. Jack stand unbeweglich da und sah sie an. Dann setzte er sich auf einen Stuhl, den Hummer auf dem Schoß, und schaute auf die Hand. Und dann fing er an zu weinen. Er legte den Hummer auf den Boden, warf sich über den Tisch, den Kopf in den Armen vergraben, und schluchzte. Er weinte eine lange Zeit. Er weinte wie eine Frau. Er weinte wie ein kleines Kind. Er weinte wie Gott weiß was. Dann ging er ins andere Zimmer und hob den Hörer ab.
»Vermittlung, geben Sie mir die Polizei. Ja, ich weiß, daß es komisch klingt; das Mundstück ist abgeschraubt. Aber ich möchte trotzdem, daß Sie mich mit der Polizei verbinden.« Jack wartete.
»Ja? Also, hören Sie zu, ich hab einen Mann umgebracht! Was sag ich einen Mann? DREI MÄNNER ! Im Ernst, ja, das ist mein Ernst! Ich möchte, daß Sie kommen und mich holen. Und daß Sie die Leichen abholen. Ich bin wahnsinnig. Ich hab den Verstand verloren. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Was?« Jack gab ihnen seine Adresse.
»Was? Das kommt, weil das Mundstück nicht mehr dran ist. Ich hab's abgemacht. Ich hab das Telefon gepimpert.« Der Beamte am anderen Ende redete aufgeregt weiter, aber Jack legte auf. Er ging zurück in die Küche, setzte sich wieder an den Tisch und vergrub den Kopf in den Armen. Er heulte nicht mehr. Er saß einfach da, das rötliche Licht war verschwunden, die Sonne war weg, es wurde dunkel, er dachte an Becky, und dann dachte er daran, sich umzubringen, und schließlich dachte er an gar nichts mehr. Der tiefgekühlte südafrika nische Hummer taute langsam zwischen seinen Füßen. Er kam nicht mehr dazu, ihn zu essen. Ich hatte mir eines Abends leicht einen angetrunken und kriegte Besuch von dem Kerl, der ein paar von meinen Büchern veröffentlicht hat, und er fragte mich: »Bukowski, hast du Lust, mit rüber zu L ... zu gehen?«
L ... war ein berühmter Schriftsteller. Seine Bücher waren in alle möglichen Sprachen übersetzt. Diverse Stipendien, Ehen, Mätressen, Preise, Romane, Gedichtbände, Kurzgeschichten, Europa-Aufenthalte, sogar Gemälde-Ausstellungen, was man nur wollte.
»Nee, Scheiße«, sagte ich zu Jensen, »der Kerl langweilt mich.«
»Aber das sagst du bei jedem.«
»Na und? Stimmt ja auch.«
Jensen setzte sich hin und sah mich an. Jensen liebte es, dazusitzen und mich anzustarren. Er konnte einfach nicht verstehen, weshalb ich so blöd war.
»Er möchte dich kennenlernen. Er hat von dir gehört.« »So, hat er? Und ich hab von ihm gehört.« »Du würdest dich wundem, wie viele Leute schon von dir gehört haben. Grad kürzlich war ich bei N. A. zum Abendessen, und sie hat gesagt, daß sie dich gern mal zum Essen einladen möchte. Sie hat L ... während seiner Zeit in Europa gekannt.«
»Was du nicht sagst.«
»Und beide waren gute Bekannte von Artaud.«
»Ah ja, und sie wollte Artaud nicht an ihren Arsch ran lassen.«
»Stimmt.«
»Kann man ihr nicht verdenken. Ich hält ihn auch nicht rangelassen.«
»Tu mir einen Gefallen. Geh mal mit rüber zu ihm.« »Artaud?«
»Nee, L . . .«
Ich leerte mein Glas.
»Na schön, gehn wir.«
Es war eine lange Fahrt von den Slums zu L's Haus. Und was für ein Haus. Jensen rammte den Wagen die Einfahrt hoch, und die war so lang und breit wie 'ne Autobahnauffahrt. »Ist das der Mensch, der ständig jammert, wie arm er dran ist?«
»Na immerhin soll er dem Finanzamt 85 ooo schulden . . .« »Arme Sau.«
Wir stiegen aus dem Wagen. Es war ein dreistöckiges Haus. Auf der Veranda stand eine gepolsterte Schaukel, und in der Schaukel lag

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