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Auge des Mondes

Titel: Auge des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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selbstbewusst in die erste Reihe gestellt hatte.
    » Diesem Fürsten von Naharina aber war kein Kind geboren außer einer Tochter «, fuhr Mina fort und bedachte noch sorgfältiger als sonst jedes Wort. » Für sie war ein Turm gebaut worden, dessen einziges Fenster siebzig Ellen über dem Boden lag. Der Fürst ließ die Söhne aller Fürsten des Landes Syrien holen und sprach zu ihnen: ›Derjenige, welcher das Fenster meiner Tochter erreicht, der bekommt sie zur Frau.‹«
    Sie hatte ihn erreicht, das spürte sie. Der Perser sah nachdenklich aus, fast schon grüblerisch. Er schien das Märchen zu verstehen, und offenbar gefiel es ihm, ja mehr als das, es ging ihm offenbar besonders nah, obwohl er ja noch nicht ahnen konnte, welch überraschendes Ende es nehmen würde.
    » Der ägyptische Jüngling, der den anderen beim Hochspringen zusah, fragte sie, was sie da machten. Sie antworteten ihm, dass derjenige, welcher das Fenster der Fürstentochter erreiche, diese zur Frau bekomme. Der Jüngling beobachtete sie aufmerksam, hielt sich aber etwas abseits. Was er freilich nicht wusste war, dass ihn die Fürstentochter die ganze Zeit über heimlich beobachtete.
    Viele Tage danach kam der fremde Jüngling wieder, um mit den Söhnen der Fürsten zu wetteifern. Er sprang - und erreichte das Fenster der Fürstentochter von Naharina. Sie küsste ihn und umarmte ihn innig. Man ging, um das Herz ihres Vaters mit dieser Nachricht zu erfreuen. Der Fürst erkundigte sich, welcher der Bewerber das zustande gebracht habe, und als hörte, es sei der Sohn eines ägyptischen Offiziers gewesen, wurde er sehr wütend.
    ›Soll ich meine Tochter etwa einem Flüchtling aus Ägypten geben? Er möge schleunigst nach Hause zurückkehren!‹
    Man kam zu dem Jungen, um ihm das zu sagen. Die Fürstentochter aber hielt ihn fest und schwor: ›Wenn man ihn von mir losreißt, werde ich weder essen noch trinken, und ich werde bald sterben.‹
    Diese Nachricht wurde ihrem Vater zugetragen …«
    Ein kurzes, hartes Geräusch, als sei etwas Metallisches zu Boden gefallen. Abrupt hatte der Perser sich aus dem Kreis der Lauschenden gelöst und ging weg. Dieses Mal sah er sich nicht mehr um.
    Mina erzählte weiter, obwohl es ihr nicht leichtfiel. Doch sie durfte nicht an dieser Stelle aufhören, nicht, bevor sie erzählt hatte, dass der Fürst in seiner Wut so weit ging, dass er beschloss, den fremden Jungen töten zu lassen.
    Jetzt erst hielt sie inne. Die Augen der Frauen waren groß und fragend; ihre Mienen verrieten, wie sehr sie alle mitgegangen waren.
    »Kommt wieder!«, sagte Mina. »Wenn ihr wissen wollt, wie das Märchen ausgeht.« Sie hielt kurz inne. »Aber nicht morgen, sondern erst übermorgen!«
    Was hatte sie gerade gesagt?
    Das verstieß gegen alle Regeln der Erzählkunst, aber die Frauen nickten dennoch zufrieden.
    »Wunderschön!« Eine ältere Frau mit gebeugtem Rücken zupfte sie schüchtern am Kleid. »Beinahe so wie früher. Als ich noch ganz klein war und auf dem Schoß meiner Großmutter sitzen durfte. Jeden Abend hat sie mir einen Teil einer Geschichte erzählt, und ich konnte es kaum erwarten, bis sie ihre Hausarbeit beendet hatte und wieder Zeit für mich fand, damit es endlich weiterging.« Sie hielt Mina ein Tongefäß vor die Nase, aus dem ein köstlicher Duft stieg. »Gebratene Wachtelchen«, flüsterte sie. »Nach einem ihrer alten Rezepte. Die werden dir deinen Magen zärtlich streicheln.«
    Mina bedankte sich dafür, ebenso wie für die anderen Gaben, die sie entgegennehmen musste, obwohl sie sich anfangs dagegen sträubte. Heute war einiges zusammengekommen; sie beschloss, einen der Halbwüchsigen, die ständig auf dem Markt herumlungerten, zu beauftragen, ihr alles nach Hause zu bringen. Der Junge hatte schon öfter für sie gearbeitet, war zwar etwas vorlaut, aber zuverlässig. Er hatte seinen Handkarren fertig beladen, als Mina plötzlich stutzte.
    »Geh schon voraus!«, sagte sie. »Den Weg kennst du ja.«
    Sie bückte sich, hob auf, was ihr da so glänzend aus dem Staub entgegenschimmerte, und hielt es verblüfft in der Hand.
    Es war klein und rund, kaum größer als ein Daumennagel, die Vorderseite nicht ganz eben, sondern leicht erhaben. In das Metall geprägt war das Bild eines knienden Kriegers, der den Bogen spannte. Vorsichtig drehte sie es um. Die Rückseite war vertieft und trug ihr unbekannte Symbole. Zahlen? Persische Schriftzeichen?
    Minas Kehle war eng geworden. Obwohl sie es zum ersten Mal zu Gesicht

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