Auge des Mondes
freue mich, dass du bei mir bist«, sagte Mina leise.
»Willkommen, Bastet!«
Als sie nach einer Weile vorsichtig neben sich langte, war der Platz leer. Die Katze war verschwunden.
Natürlich ließ er sie warten. Sie hatte bereits auf dem Hinweg, während sie langsam bergab ging, bis sie über die breite, steingepflasterte Ostallee, Hauptweg aller Prozessionen, das Herzstück der Stadt erreicht hatte, mit nichts anderem gerechnet und sich vorgenommen, geduldig zu sein. Und auch der junge Priesterschüler, der sie nach den Wachen am Großen Tor des Tempels in Empfang nahm und mit demütig gesenktem Kopf weitergeführt hatte, bedeutete ihr mit knappen Gesten, dass sie sehr viel Zeit mitzubringen habe. Sein Schurz schlotterte beim Gehen bedenklich um die mageren Hüften; verlegen nestelte er unablässig an ihm herum. Offenbar stand er kurz vor den Ersten Weihen und war daher zu Fasten und strengem Schweigen verurteilt, um sich der Gottheit würdig zu erweisen.
Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass Mina zum letzten Mal hier gewesen war, und dieser Teil der riesigen Tempelanlage, in dem sie sich nun befand, war ihr gänzlich unbekannt. Kein Wunder, nachdem die Bauarbeiten hier niemals ein Ende fanden und ständig emsig erweitert, renoviert, abgerissen und wieder neu aufgerichtet wurde.
Sie befand sich in einem kleinen Innenhof, in dem eine steinerne Bank zum Sitzen einlud und ein schlanker junger Baum zarten Schatten spendete. Trotzdem war es unerträglich heiß; sie war durstig und übernächtigt und wäre am liebsten auf der Stelle wieder nach Hause gegangen, doch der Gedanke an Ameni ließ sie ausharren.
Ob er ernsthaft in Gefahr war? Oder hatte Sedi nur wieder einmal eine seiner aufgebauschten Lügengeschichten zum Besten gegeben, um sich vor ihr wichtig zu machen?
Schließlich fing sie an, sich zu langweilen. Vielleicht hatte man sie hier ja schlichtweg vergessen als nur eine unter unzähligen Bittstellerinnen, die der Bastet-Priesterschaft lästig fielen. Viele Frauen, die sich bisher vergeblich ein Kind wünschten, kamen zum Tempel, um der Göttin zu opfern, oft von sehr weit her. Beim Fest der Göttin würden es Tausende sein, die aus dem ganzen Land hierher strömten und die Stadt bevölkerten. Gasthöfe und Schenken freuten sich schon jetzt auf den zusätzlichen Umsatz. Mina waren die Gesichter dieser Frauen, in denen Hoffnung und Angst sich beängstigend mischten, nur allzu bekannt. Manche kehrten nach den Feierlichkeiten schwanger und fröhlich nach Hause zurück, als habe der Atem der Göttin sie gesegnet; andere kamen wieder, Jahr für Jahr, um endlich doch noch Erfüllung zu finden.
Von irgendwoher ertönte gereiztes Gemaunze, dann ein Kreischen, doch gesehen hatte Mina bislang noch keine der sonst so zahlreich herumstreichenden Tempelkatzen. Ihre Langeweile drohte trotz aller stillen Ermahnungen in Unwillen umzuschlagen, als plötzlich Senmut den Hof betrat. Auf seinen Armen thronte eine alabasterweiße Katze, die er zärtlich trug. Ihre Augen waren groß und golden; aufmerksam und ohne Angst schienen sie die Besucherin zu mustern.
»Was für ein schönes Tier!«, rief Mina.
Der Priester drückte seine Nase in das schimmernde Fell der Katze.
»Zornig wie Sachmet«, sagte er. »Süß wie Bastet. Sie, die größte aller Göttinnen, birgt alle Geheimnisse in sich.«
Mina hatte vergessen, wie klein Senmut war. Und wie blendend er stets aussah. Ein gertenschlanker, zierlicher Mann, dessen Bauch noch immer so flach und muskulös war wie der eines Jünglings. Zarte Schlüsselbeine. Wohlgeformte Oberarme. Ein glatter, jungenhafter Brustkorb, wie er vollendeter nicht hätte sein können. Der rasierte Schädel unterstrich die Anmut seiner ovalen Kopfform. Wangen, Nase, Mund - alles wie das fein gemeißelte Werk eines Bildhauers, der seine Kunst perfekt beherrschte.
»Hast du dich sattgesehen?« Er klang amüsiert.
»Verzeih, dass ich dich so respektlos angestarrt habe!« Mina begann vor Verlegenheit zu schwitzen. »Aber du scheinst ein Zaubermittel zu besitzen, das die Zeit anhalten kann.«
»Mein Dienst ist zeitlos«, sagte er. »Und mein ganzes Dasein einzig und allein der einen gewidmet.« Sein Lächeln verschwand. »Weshalb willst du mich sprechen, Mina?«
»Es geht um meinen Neffen«, sagte sie. »Um Ameni, den Sohn des Rahotep. Du kennst ihn.«
»Ist das nicht dieser kleine Rabauke, der immer die Tempelkatzen herumgescheucht hat? Ich glaube, Chai hat ihn manchmal in die Schreiberstube
Weitere Kostenlose Bücher