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Auge des Mondes

Titel: Auge des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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wieder bewusst, dass sie hier war.
    Plötzlich stieß er einen schrillen Schrei aus. Um sich endlich aus der lästigen Umklammerung zu befreien, hatte die Weiße ihre scharfen Krallen eingesetzt. Er ließ sie abrupt fallen, hob noch matt die verletzte Hand, als wolle er nach ihr schlagen, aber sie war längst um die Ecke verschwunden.
    Blut tropfte auf den hellen Steinboden. Unwillkürlich streckte Mina Senmut ihren Handrücken entgegen. Bastets Andenken war noch immer deutlich sichtbar. Er starrte sie an, mit neu erwachtem Interesse.
    »Du hörst von mir«, sagte er. »Sobald es Neuigkeiten gibt. Ich werde dir einen Boten schicken. Eines jedoch musst du mir versprechen!«
    Mina nickte. Alles, dachte sie, wenn es Ameni nur hilft! Ihr Neffe war in Gefahr, plötzlich war sie sich ganz sicher. Sedis Andeutungen waren nicht aus der Luft gegriffen.
    »Kein Wort über das, was zwischen uns innerhalb dieser Mauern gesprochen wurde.« Seine gebieterische Stimme erinnerte sie an splitterndes Metall. »Sonst kannst du Hilfe für immer vergessen.«
    »Ich vermag zu schweigen.« Sie hielt seinem bohrenden Blick stand.
    »Das sagen sie alle. Und dann reden sie doch.«
    »Ich bin nicht wie alle«, widersprach Mina, so stolz sie nur konnte. »Ich dachte, Chai hätte dir das gesagt.«
    »Von ihm erfuhr ich nur, dass du eine Geschichtenerzählerin bist.«
    »Eben«, entgegnete Mina. »Dann weißt du ja bereits genug.«

    Als er noch klein war, hatte er oft einen nervösen Magen gehabt und sich scheinbar grundlos erbrechen müssen - und niemand hatte es begriffen, wie elend er sich dabei fühlte. Niemand außer ihr. Sie war hingestürzt zu ihm, hatte ihn hochgehoben, liebevoll auf den Rücken geklopft, falls nötig aber auch sanft geschüttelt. Und wenn er danach erschöpft eingeschlafen war, lief sie immer wieder zu ihm, beugte sich über seine samtige, duftende Haut, so nah, dass ihr schwindelig wurde. Das war eines ihrer Geheimnisse, das Geheimnis der wenigen, gestohlenen Nächte, die der kleine Ameni in ihrem Haus hatte verbringen dürfen.
    Warum musste sie ausgerechnet jetzt an diese längst vergangene Zeit denken? Weil er dich braucht, antwortete ihr Herz, während ihre Stimme fortfuhr, als sei nichts geschehen. Im Herzen haben die Dinge kein Ende.
    » Es war einmal ein König, sagt man, dem kein Sohn geboren war …«
    Seit sie ihre Geschichten in zwei Hälften riss, hatte sich die Zahl der Zuhörerinnen nahezu verdoppelt. Es war, als lauerten die Frauen nur darauf, warten zu müssen, als genössen sie die damit verbundene Spannung mehr als eine sofortige Auflösung. Mina war nichts anderes übrig geblieben, als in ihrem Reservoir nach anderen Märchen zu kramen, die sich aufteilen ließen.
    Eines der schönsten, die sie kannte, war Der verwunschene Prinz , ihr besonders lieb und wertvoll, weil es aus dem Schatz ihrer Großmutter stammte. Sie erzählte es nicht oft, wie man ja auch ein kostbares Kleid nur zu bestimmten Gelegenheiten trägt, doch wenn sie es tat, stellte sich jedes Mal jene feierlich-geheimnisvolle Stimmung ein, die für sie stets mit dieser Geschichte verbunden war.
    Und noch einen zweiten Grund gab es, warum sie sich heute ausgerechnet für dieses Märchen entschieden hatte. Ein Grund, so verborgen und geheim, dass sie ihn nicht einmal vor sich selber laut auszusprechen wagte.
    » Da erbat er sich bei den Göttern einen Jungen, und sie befahlen, dass einer zur Welt komme. Der König schlief mit seiner Frau noch in derselben Nacht, und siehe, sie wurde schwanger. Nach der angemessenen Zeit brachte sie einen schönen Knaben zur Welt.
    Drei Schicksalsgöttinnen hatten die Geburt dieses heiß ersehnten Sohnes mit schweren Auflagen belegt und ihm prophezeit, er sterbe entweder durch das Krokodil oder durch die Schlange oder durch den Hund. Sein Vater, der verzweifelte König, versuchte, das Schicksal zu überlisten und ließ seinem Sohn mitten in der Wüste einen herrlichen Palast bauen, in den er ihn einschloss. Der Knabe aber, kaum herangewachsen, floh aus seinem goldenen Gefängnis und zog hinaus in die Welt, bis er schließlich zum Fürsten von Naharina gelangte, der am Euphrat regierte . Dort verschwieg er seine wahre Herkunft und gab sich als Sohn eines ägyptischen Offiziers aus, der vor seiner bösen Stiefmutter geflohen sei, weil sie ihn so gehasst habe.«
    Mina schaute auf. Jetzt ruhten alle Augen auf ihr, auch die blauen des Persers, der heute zu ihrer Verwirrung erneut gekommen war und sich

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