Auge des Mondes
mitgebracht.«
»Bei ihm hat die Zeit mehr bewirkt als bei dir«, sagte sie. »Ameni ist inzwischen zu einem jungen Mann herangewachsen. Der allerdings in große Schwierigkeiten geraten sein könnte.«
Er hatte sich neben ihr auf der Bank niedergelassen. Die Katze hockte auf seinem Schoß, als sei sie ein Teil von ihm. Mina wusste nicht weshalb, aber Senmuts Nähe war ihr merkwürdigerweise unangenehm. Etwas ging von ihm aus, von dem sie sich bedrängt fühlte. Sie strengte sich an herauszufinden, was es sein könne.
»Du musst schon deutlicher werden«, sagte er.
»Man hat mir zugetragen, dass er womöglich eine Riesendummheit begangen hat«, sagte sie. »Angeblich ist er im Garten des Satrapen aufgegriffen worden. Was aber ist danach geschehen? Ameni ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden. Ist dir vielleicht darüber etwas zu Ohren gekommen?«
Seine Hand strich behutsam über das Katzenfell. Das Tier machte sich lang und begann zu schnurren. Offenbar gefiel ihm, was er tat, und vor allem, wonach er roch. Mina jedoch mochte es nicht.
Das war es, was sie störte! Der süßlich penetrante Duft, der in warmen Wellen zu ihr flutete und so gar nicht zu dem sonst so männlichen Priester passen wollte.
Sie rückte auf der Bank so unauffällig wie möglich ein Stückchen zur Seite und hoffte, dass Senmut dies nicht bemerkte.
»Dieser Aryandes ist ein ganz besonderer Fall«, sagte er. »Das betrifft nicht nur deinen verschollenen Neffen. Das betrifft vor allem Kemet.«
»Was willst du damit sagen? Weißt du etwas über Ameni und ihn?«
»Nein«, sagte er, »leider nicht.« Sein Mund wurde hart.
»Und ich wäre sicherlich der Letzte, den Satrap Aryandes über irgendwelche Maßnahmen in Kenntnis setzen würde. Ich muss dich enttäuschen, Mina. Du hast auf den Falschen gesetzt.«
»Aber arbeitet ihr denn nicht eng zusammen? Du als Oberster Bastet-Priester und er als Stellvertreter des Pharaos …«
Sie hatte alles verkehrt angefangen!
Mit steinerner Miene war Senmut aufgestanden. Die weiße Katze landete lautlos auf dem Boden.
»Warte!«, sagte Mina schnell. »Geh noch nicht, bitte! Ich wollte dich nicht kränken, das musst du mir glauben. Hilf mir, Senmut! Ich weiß sonst nicht mehr weiter. Wir machen uns alle Sorgen um Ameni. Die ganze Familie.«
Er bückte sich, nahm das Tempeltier erneut hoch.
»Dazu müsste ich zuerst gewisse Erkundigungen einziehen«, sagte er. »Vorausgesetzt allerdings, sie wissen es nicht wieder einmal zu verhindern.«
»Das heißt …«
»Das heißt, dass diese Perser am liebsten unter sich bleiben, wenn du verstehst, was ich damit sagen will. Sie verachten uns. Sehen auf uns herab. Dünken sich etwas Besseres. Obwohl sie keinerlei Anlass dazu haben - ganz im Gegenteil!«
Sie nickte rasch. Egal, was immer er damit meinte, sie wollte nur eines, einen Namen, einen Weg, irgendetwas, das sie nicht länger zur Untätigkeit verdammte.
»Sie werden allerdings lernen müssen umzudenken«, fuhr der Priester fort. »Denn gewisse Dinge sind ewig, und andere sind es nicht. Sie kommen sich so klug vor mit ihrem heiligen Feuer, das alles reinigen und läutern soll, uns so unendlich überlegen, dabei haben sie nichts von Kemet verstanden, dem Schwarzen Land der Götter, gar nichts!«
Seine Stimme war unpersönlich und hart geworden, als halte er eine Ansprache vor vielen Menschen, eine Brandrede, mit der er möglichst viele aufwiegeln wollte, so sicher und wohlgesetzt, als habe er sie auswendig gelernt oder schon viele Male wiederholt.
»Siehst du nicht das Leid überall auf den Straßen? Die aufgequollenen Bäuche der hungrigen Kinder? Das Elend in den Herzen? Das ist allein das Werk dieser bärtigen Dämonen, die über uns gekommen sind wie ein Schwarm Heuschrecken.«
Erregt drückte er die Katze an sich, so fest, dass sie sich zu wehren begann. Er aber hielt sie, eng, unerbittlich.
»Doch die Tränen der Isis lassen den großen Fluss jedes Jahr wieder steigen, das kann niemand aufhalten, erst recht kein Pharao, der seinen Thron verwaisen lässt. Alles Schlechte versinkt in den Fluten des Nils. Dann erst kann das Gute wieder keimen und sprießen.«
Er hatte sie längst vergessen, das spürte Mina. Senmut sprach zu sich selber, zu einer Macht, als deren gehorsamer Diener er sich begriff. Sie aber war mit einem dringenden Anliegen gekommen und nicht bereit, unverrichteter Dinge weggeschickt zu werden.
Sie räusperte sich. Sein Blick glitt zu ihr, gewann an Klarheit. Offenbar wurde ihm
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