Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
ausgehen.
Die frohe Botschaft von meinem »Aufstieg« hatte man auch bei Sazegan-Gostar aus der Zeitung erfahren. Die Kollegen spendierten mir nicht nur eine riesige Torte, sondern wunderbarerweise auch etwas Geld, mit dem ich mir einen Teil meiner Ausstattung für die Hochschule kaufen konnte: ein Paar Schuhe und eine neue Tasche, um standesgemäß gerüstet in meinen neuen Lebensabschnitt aufzubrechen.
Es war ein schönes Gefühl, so viel Unterstützung zu erfahren und auf so aufrichtige Art und Weise angespornt zu werden. Frauen in unserem Land waren bisher kaum ermutigt worden, technische Berufe zu ergreifen. Um gerade das zu ändern, war an meiner ehemaligen Schule auch ein naturwissenschaftlicher Zweig eingerichtet worden. Mardschan und ich gehörten damals zur zweiten Generation Mädchen, die an dieser Schule Grafikdesign oder Elektronik zu ihrem Ausbildungsschwerpunkt machen konnten. Und nun, im Jahr 2000, waren wir Teil einer kleinen Gruppe von Frauen, die weiter unaufhaltsam ihren Weg in einer Männerdomäne machen wollte.
Studentenleben. Was hieß das eigentlich genau? Und was käme jetzt auf uns zu? Wir würden hoffentlich unbeschwerter, mit mehr Elan lernen können als in der Schule, weil die Entscheidung für unser Studienfach freiwillig gefallen war. Und zudem herrschte auf dem Süd-Campus damals noch keine Kleiderordnung. Keine Tschadorpflicht! Das war uns viel wert. Es bildete die geistige Freiheit gewissermaßen nach außen hin ab. Ein unabhängiger Geist in einer frei gewählten Hülle. Ein starker Kontrast! In besonders konservativen Regionen unseres Landes waren Frauen ausgepeitscht worden, weil sie es sich erlaubt hatten, »kurze« Hosen zu tragen – was gemäß der offiziellen Definition als kurz galt: Hosen, die nur bis zu den Knöcheln reichen, ohne sie jedoch zu bedecken. Bis zu den Knöcheln …
Wir würden nun an der Universität neue Leute kennenlernen, vielleicht neue Freundschaften schließen können und unseren Weg in eine bessere Zukunft gehen. Ganz gewiss aber hieß es für Mardschan und mich auch, dass wir für mindestens fünf oder sechs Jahre eine enorme Doppelbelastung schultern müssten, weil wir neben dem Studium weiterhin unser eigenes Geld verdienen mussten. Die Frage, ob wir nach dem Studium auch Arbeit in unseren Berufen finden würden, raubte uns immerhin noch nicht den Schlaf. Wir waren angekommen, und wir würden unseren Weg schon gehen – davon waren wir beide vollkommen überzeugt.
An unseren ersten Tag in der Universität erinnere ich mich noch wie heute: Mardschan und ich saßen schon lange vor Beginn der ersten Vorlesung auf dem Campus, betrachteten das Gewimmel von jungen Leuten ringsum und schauten uns bereits die Studenten aus, mit denen wir am liebsten gemeinsam in der Vorlesung sitzen wollten. An dieser Privatuniversität würden wir, anders als einst in der Schule, nicht mehr nach Geschlechtern getrennt unterrichtet. Endlich durften junge Frauen und Männer ungehindert und ungezwungen miteinander umgehen. All die Zwänge, die auf unserer Kindheit und Jugend lasteten, schienen mit einem Mal beseitigt. All diese Verbote, die naturgemäß Heimlichkeiten heraufbeschworen, wichen einer Alltäglichkeit zwischen den Geschlechtern, die mir normal und angemessen schien. Das ging manchmal so weit, dass uns der eine oder andere Mann auf dem Campus geradezu lästig wurde und wir uns scherzhaft wünschten, die Geschlechtertrennung hätte noch Bestand gehabt.
Wie so häufig in jenen Tagen musste ich immer wieder an Amir denken. Ich war nicht nur räumlich von ihm entfernt – mein ganzes Leben hatte sich seit unserer Trennung weiterentwickelt und massiv verändert. Wie es ihm jetzt wohl erging? Ob er mit dem Studium bald fertig war? Ob er zu den Besten zählte? Ganz gewiss aber war er unter den Beliebtesten seines Jahrgangs. Ach, Amir! Im Grunde bewahrte ich mir ja die Erinnerung an seine guten Seiten, an seine Hilfsbereitschaft, seine Geduld, seine Großzügigkeit, die sich in seinen schönen Augen spiegelten. Ob wir doch füreinander geschaffen waren? Das zu prüfen war es wohl einfach zu spät …
Ich war nun eine Teheraner Studentin, und an dieses Leben musste ich mich zunächst einmal gewöhnen. Ich dachte immer wieder darüber nach, dass ich mich ein bedeutendes Stück weiter in die Welt des Erwachsenwerdens vorgewagt hatte. Im Übrigen ging es an der Hochschule mitunter sehr lebhaft und sogar rau zu. Eine Tatsache, die mir schon in den ersten Tagen
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