Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
eindringlich bewusst gemacht wurde, als ich eines Mittags in der Mensa saß.
Ich wartete an einem Tisch, träumte vor mich hin, behielt zugleich aber den Eingang im Auge, um Mardschan nicht zu verpassen, mit der ich gemeinsam essen wollte. Plötzlich schoss ein Schatten an meinem Gesicht vorüber, und zugleich durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Was war das? Warum tat das so weh? Ich griff mir an die Nase, aber sie blutete zum Glück nicht. Mir schwirrte der Kopf, ich verstand gar nicht, was da gerade geschehen war.
»Oh mein Gott, entschuldige! Das wollte ich nicht. Tut mir wirklich leid. Ich bin ein miserabler Werfer. Ich habe meine Tasche bloß drüben auf den Tisch geworfen, um mir den Platz zu reservieren«, versuchte der Typ mich zu beschwichtigen.
»Du gehörst echt zurück in den Kindergarten!«, fauchte ich ihn an und versuchte, die Sache so schnell wie möglich wieder zu vergessen.
Die Freie Universität schien uns in mancher Hinsicht eine Insel zu sein, eine Oase in der Wüste. Und gleichwohl kein Ort, der von Frivolitäten oder Anstößigkeiten bestimmt war. Nein, die gewonnenen Freiheiten entfernten uns keinesfalls von den Grundsätzen unseres islamischen Glaubens – sie machten uns junge Leute einfach nur ein wenig freier.
Wo sonst hätte man in unserer Gesellschaft öffentlich, ohne Anstoß zu erregen und ohne Einmischung der Familie, den Partner oder die Partnerin fürs Leben finden sollen? Oder auch nur einen guten Freund. Einen, mit dem man seine Alltagssorgen besprechen oder von dem man sich einfach nur einen guten Rat holen konnte. Ganz unverbindlich.
Irgendwann lernte ich Farzan kennen, der damals Pharmazie studierte und heute eine eigene Apotheke besitzt. Er wurde für mich dieser ersehnte Vertraute. Wir trafen uns zwar nur selten und telefonierten nur alle zwei bis drei Monate miteinander. Aber Farzan half mir oft – nicht nur beim Lösen von Mathematikaufgaben. Immer wieder hat er mir Mut gemacht, wenn ich dachte, ich würde nicht weiterkommen, oder wenn ich, der Verzweiflung nahe, alles hinschmeißen wollte. Er hat mir zu jener Zeit gutgetan, weil er mich ganz selbstverständlich in meinen Plänen bestärkte. Farzan vertrat nicht die Ansicht, dass Hauswirtschaft, Geburtshilfe oder Kindergarten besser zu mir passten als ein »Männerfach« wie Elektronik.
Und so blieb ich bei meiner Fachrichtung, auch wenn ich mich streckenweise regelrecht durchbeißen musste. Mathematik und Physik waren längst kein Kinderspiel mehr wie einst in der Schule. Manches Mal flößten sie mir sogar Angst und Abneigung ein, weil sie mir das Leben so schwer machten. Die Klausuren zum Abschluss des ersten Semesters waren eine einzige Quälerei, das Ergebnis jämmerlich trotz durchgearbeiteter Nächte. Um nicht kläglich zu scheitern, musste ich mir etwas einfallen lassen. Die Arbeit in der Firma konnte und wollte ich nicht aufgeben. Meine finanzielle Eigenständigkeit war mir lieb und teuer. Wenn ich mein Ziel erreichen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich noch stärker aufs Lernen zu konzentrieren. Irgendwie bestand ich dann auch die Abschlussklausuren des zweiten Semesters – Gott sei es gedankt.
Mein Arbeitsvertrag war wieder verlängert worden, aber die Zeichen standen schlecht, weil die Firma inzwischen beschlossen hatte, ihre Produktion schrittweise einzustellen und auf den Vertrieb importierter Geräte umzusteigen. Und dann, mitten im Semester, wurden plötzlich alle Studenten entlassen – eine sogenannte Einsparmaßnahme.
Entlassung. Ich war raus aus der Firma. Weg von meiner Zweitfamilie. Ich war verzweifelt. Wo hätte ich je wieder einen so großzügigen Arbeitgeber finden können? Wie sollte ich fortan meine Studiengebühren finanzieren? Fragen über Fragen brachen über mir herein. Ich saß im Bus nach Hause, hielt mit Mühe meine Tränen zurück und flehte leise: »Ey khoda, Gott im Himmel, zeig mir einen Weg, mach irgendwo eine Tür auf, ich bitte dich!« Statt direkt nach Hause zu gehen, setzte ich mich in den Park bei uns in der Nähe. Ich wollte erst in Ruhe weinen und dann ungestört überlegen, wie es weitergehen könnte. Das fröhliche Kindergeschrei vom Spielplatz störte mich nicht. Im Gegenteil. Es half mir beim Nachdenken. Die Mütter auf den Bänken ringsum hatten genug damit zu tun, ihre Sprösslinge im Auge zu behalten. Sie schenkten mir und meinen Tränen keine Beachtung.
Wie ich nun meine Probleme auch drehte und wendete, ich sah nur eine Möglichkeit: Der
Weitere Kostenlose Bücher