Auge um Auge (German Edition)
brauchen. Ich muss völlig normal erscheinen. Ich muss so tun, als wäre ich dieselbe wie immer.
Reeve legt mir einen Finger unters Kinn und kippt meinen Kopf leicht zurück, und im selben Augenblick verändert sich etwas in seiner Miene: Das Grinsen verschwindet, und er sieht mir fest in die Augen, so als wollte er irgendetwas ergründen. Und dann, statt mich auf den Mund zu küssen, gibt er mir im letzten Moment einen Kuss auf den Kopf, so wie mein Vater es immer machte, wenn er hereinkam, um mir gute Nacht zu sagen. Ich weiß nicht, ob ich ihm dankbar sein oder mich gekränkt fühlen soll.
»Das ist unfair!«, sagt Ashlin und wedelt mit dem Finger in Reeves Richtung. » Auf den Mund , lautet die Regel.«
PJ nickt weise. »Ash hat recht. So ist nun mal die Regel.«
»Lasst gut sein, Leute«, sagt Alex. »Er hat sie geküsst und fertig.«
Reeve klatscht in die Hände. »Wer ist als Nächster dran?«
Ich rutsche zurück. Ich will nur noch nach Hause.
»Reeve ist jetzt dran«, sagt Rennie laut.
»Yeah!« Reeve reibt sich die Hände und dreht die Flasche. Einerseits hoffe ich, dass die Flasche bei Rennie landet, damit ich schneller von hier wegkann, andererseits hoffe ich, dass sie es nicht tut, damit sie ihren Willen nicht bekommt. Die Flasche zeigt auf Josh Fletcher, und alle brechen in Gelächter aus.
»Komm schon, Fletch, keine Angst«, sagt Reeve, »ich mach’s wie bei Lillia.«
»Dreh lieber noch mal«, warnt ihn Josh, »was weiß ich, wo du deine Lippen schon überall hattest.«
Am Ende dreht Reeve die Flasche noch einmal, und nun zeigt sie tatsächlich auf Rennie. Grinsend lehnt er sich vor für einen schnellen Kuss. Doch Rennie hat anderes im Sinn. Sie kniet sich hin und schiebt sich langsam, Zentimeter um Zentimeter, durch den Kreis, bis sie direkt vor ihm ist, greift nach seinem T-Shirt und zieht ihn zu sich heran. Dann küsst sie ihn, als wollte sie ihn verschlingen. Zuerst noch mit geschlossenen Lippen, doch im nächsten Augenblick küssen sie sich richtig. Sie legt ihm sogar die Arme um den Hals.
Allgemeines Gejohle und Gekreische, alle rasten jetzt total aus. Es ist so traurig und so widerlich – Rennie macht sich vor allen Leuten zum Gespött. Vor allem vor Reeve . Er hat ihr doch schon durch die Blume klargemacht, dass er sie nicht als Freundin will. Doch deswegen will Rennie ihn nur umso mehr. Es ist einfach lächerlich.
19 MARY Señor Tremont reiht verschiedenes Plastikgemüse auf seinem Pult auf und bittet um Freiwillige für ein Rollenspiel. Eine Szene auf einem spanischen Wochenmarkt. Ich sitze nur da und sehe mit einem Lächeln auf Alex’ leeren Platz.
Jener Abend war vielleicht der lustigste in meinem ganzen bisherigen Leben. Rauszuschleichen mit Lillia und Kat, sich halb totzulachen, in rasender Fahrt durch die Dunkelheit zu düsen. Als ich nach Hause kam, bin ich gleich ins Bett gekrochen und wollte schlafen, aber das war unmöglich. Ich lag im Dunkeln, zeichnete mit dem Finger die Tapetenblumen nach und dachte darüber nach, dass dieser Abend eigentlich mehr gebracht hatte, als ich mir vom ersten Tag erhofft hatte. Es geht jetzt nicht mehr bloß um Reeve. Es geht um mich, und es fühlt sich an wie Schicksal oder wie Zauberei – dass die Mädchen in mein Leben getreten sind, genau in dem Moment, als ich sie am meisten brauchte.
Ich schaue durchs Fenster und entdecke Alex, der gerade aus einem Auto steigt. Eine Frau – seine Mutter vermutlich – winkt ihm noch einmal zu und fährt dann weiter. Ich sehe ihm zu, wie er den ganzen Weg zum Haupteingang im Laufschritt zurücklegt. Gleich darauf höre ich seine schweren Schritte auf dem Linoleum, während Señor Tremont mit dem Mädchen hinter mir darüber verhandelt, wie viele Pimentos er für drei Euro bekommt.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin, Señor«, sagt Alex, als er zur Tür hereinstürmt. »Ich musste zum Arzt.«
Señor Tremont runzelt die Stirn und legt eine Hand ans Ohr, so als könnte er Alex nicht gut hören. »En español, Señor Lind. Por favor.«
Alex ist schon fast an seinem Platz. Er bleibt stehen, lässt die Schultern hängen, verdreht die Augen, bis sie fast im Hinterkopf verschwinden. Ich muss mir die Hand vor den Mund halten, um nicht laut zu lachen.
»Yo ... yo soy ...«, bemüht sich Alex.
Ich beuge mich vor, stütze mich auf die Ellbogen und lege das Kinn in die Hände. Schade, dass Lillia und Kat das nicht mit ansehen können, dachte ich, das wäre sooo toll.
Als Alex gerade zum dritten Mal
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