Auge um Auge (German Edition)
Männer in Anzügen, Putzfrauen, Leute in Supermarktuniformen – verlassen die von winzigen weißen Weihnachtsbaumlämpchen beleuchtete Fähre zu Fuß.
Ich bin sauer, weil ich Kevin nirgends entdecke, aber dann kommt er doch, als Letzter. Er trägt dieselbe abgewrackte Jeansjacke wie immer. Ich glaube, die hatte er schon, als er so alt war wie ich. Er schlendert von Bord, bleibt auf halbem Wege stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und geht dann weiter.
Ich richte mich auf und gehe auf ihn zu. Er sieht mir erst auf den Busen, dann ins Gesicht. Typisch Kevin.
»Kat?«, fragt er und kneift die Augen zusammen. Es ist schon dunkel. »Bist du’s?«
»Hey«, sage ich und schiebe die Hände in die hinteren Hosentaschen. »Pat schickt mich, ich soll sein Zeug abholen.«
»Ach, tatsächlich?« Kevin beißt auf seine Zigarette und lacht trocken.
»Yep«, sage ich leise und versuche mir die dreiste Lüge nicht anmerken zu lassen. Während Pat geduscht hat, habe ich Kevin mit seinem Handy eine SMS geschrieben und die Drogen geordert. Pats Freunde, auch meine Freunde, alle kaufen bei Kevin. Hauptsächlich Gras. Kevin kommt jeden Freitag auf die Insel und beliefert seine Kunden. Und auch wenn Pat mich manchmal mitnimmt, wenn er eine raucht – er würde mir den Hals umdrehen, wenn er herauskriegte, dass ich selbstständig bei Kevin was in Auftrag gegeben habe.
»Pat ist oben in der Werkstatt; er bastelt an seiner Maschine. Er hat sich einen gebrauchten Anlasser gekauft, weil er für einen neuen zu geizig war, und jetzt funktioniert das Teil nicht. Ich hab ihm gesagt, er soll das Scheißding zurückgeben und sich einen neuen kaufen, aber du kennst ihn ja. Jedenfalls hat er mich jetzt hergeschickt.« Ich bemühe mich, ziemlich genervt zu klingen. »Arschloch.«
»Pat kam mir nie so vor wie der Ecstasy-Typ.«
Ich bin mir nicht sicher, ob Kevin mir auf die Schliche kommt oder ob er nur quatschen will. Aber so oder so muss ich mir schnell was einfallen lassen, denn Kevin hat recht: Pat ist ein Kiffer, durch und durch.
»Er hat endlich ein Mädchen aufgetan«, sage ich. »Allerdings ist sie nicht besonders hübsch. Vielleicht ... muss er ein bisschen nachhelfen.«
Darüber lacht Kevin so heftig, dass er husten muss. Dann reckt er beide Arme über den Kopf. »Ich hab aber kein reguläres E von meinem Lieferanten gekriegt. Also hab ich Liquid E besorgt. Vielleicht rufe ich dein Bruderherz lieber erst an und frage ihn, ob das in Ordnung geht.«
Liquid Ecstasy? Ich wusste gar nicht, dass es das gibt. Auf die Art ist es ja für Lillia noch einfacher, Reeve das Zeug in den Drink zu mixen. »Und das funktioniert genau wie reguläres E?«
»Die Wirkung ist sogar stärker.« Kevin greift nach seinem Handy.
»Schon gut, passt schon.« Schnell ziehe ich die Scheine aus der Tasche und halte sie Kevin hin, bevor er noch wählen kann.
Er sieht mich wütend an. »Nicht hier!«, blafft er mich an, bevor er sich über beide Schultern nach hinten umsieht. »Komm mit.«
Also schiebe ich die Scheine zurück in die Tasche und folge ihm in die Stadt. Ich fühle mich ziemlich dumm. Wir gehen hinüber zum Bow Tie, dem Restaurant, in dem Rennie kellnert, aber zum Kücheneingang auf der Rückseite. Man hört die Restaurantgeräusche bis nach draußen – klapperndes Geschirr, scheppernde Töpfe und Pfannen, laute Stimmen, die Bestellungen weitergeben. Ich nehme an, Kevin will das Geschäft hier abwickeln, wo es ziemlich dämmrig ist, und greife wieder nach meinem Geld. Aber er winkt ab und fragt: »Was willst du trinken, Kitty Kat?«
O Mann! »Ich krieg da drin nichts.«
»Das geht schon in Ordnung. Einer der Barmänner ist ein Geschäftspartner von mir. Also lass mich raten.« Er mustert mich von oben bis unten. »Ich schätze mal, du bist der Sex on the Beach -Typ.«
Ich verdrehe die Augen. »Whiskey«, sage ich.
Er guckt erfreut. »Wart mal kurz.«
»Moment – könnten wir das Geschäftliche nicht gleich hier draußen erledigen? Ich sollte mal zurück zu Pat. Ich will nicht, dass er sauer wird.«
»Komm mit auf meine Runde, dann sag ich deinem Bruder auch nicht, dass du E bei mir kaufst und ihn zur Tarnung vorschiebst.« Kevin sieht sich seufzend um. »Diese Insel ist so verflucht öde. Ich versteh nicht, wie jemand hier wohnen kann. Komm schon, leiste mir ein bisschen Gesellschaft. Ich lass auch die Finger von dir, darauf kannst du dich verlassen – bist ja schließlich die kleine Schwester von meinem Freund. Hey, ich geb dir
Weitere Kostenlose Bücher